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Eine kleine Giraffe wird geboren. Sie betrachtet den heranwachsenden Welpen aus der Ferne, findet Gefallen daran, wie er — in der festen Überzeugung, seinen Schwanz irgendwann zu fangen— es immer weiter versucht. Während sich die anderen wieder hinlegen, macht er weiter. Jedes Mal. Sie hört, wie sie ihn fragen, warum er denn bitte seinen eigenen Schwanz jagt. Er blickt sie nur kurz an, stöhnt und denkt sich: “Was ist das denn für eine Frage?! — faules Pack!” Macht weiter.

Ein wenig sonderbar, aber sie lassen ihn mal machen. Legen sich hin. Schlafen. “Ein wenig sonderbar.”, denkt sich auch die Giraffe… “aber irgendwie süß.


Nach einigen Monaten, beginnt man, sich abends am alten Weiher zu treffen. Alle sind da, der Hund fehlt häufig: Zu kaputt, keine Zeit.

Nach einigen Hundejahren konzentriert in seine Übungen, wagt er einen Blick über den Tellerrand, sieht eine Bewegung in der Ferne: Eine Antilope! Er spurtet los. Fokus darauf, möglichst schnell zu laufen. Die Beine brennen. Er weiß: um die Antilope zu bekommen, muss er alles geben.

Die Giraffe steht mit einer Gruppe von anderen Giraffen zusammen und sieht wie er läuft. Läuft und läuft, nur … weil in der Ferne ein Baumstumpf umgefallen war. Lächerlich, all die Anstrengung für nichts. Wie beim Schwanzjagen.

Ihre Freundinnen lachen über ihn. Auf dem Schulhof fragen sie, warum er denn immer wieder irgendwelchen Hirngespinsten nachjagen würde? Ob er schon davon gehört habe, wie die anderen den alten Mosambik-Hasen erlegt hätten?

Er erwidert: “Ich will aber keinen alten Hasen.”

Denkt sich: “Ich muss nur weiter alles geben, irgendwann fange ich die Antilope schon noch. Weiter an mir arbeiten, dann werde ich es euch zeigen.” Seit dem Tag, an dem er sich mit seiner Anstrengung lächerlich gemacht hat, sprintet er bei jeder Gelegenheit. Sobald er eine Bewegung in der Entfernung sieht:

LOS!

Egal, ob Antilope, Gazelle oder Baumstumpf. Meistens Baumstümpfe. … Eigentlich nur Baumstümpfe. Antilopen und Gazellen sind selten geworden heutzutage.

LOS!

Die Giraffe überlegt sich, ihn zu fragen, warum er denn eigentlich nicht erstmal schaue, was er jagt, bevor er sich wieder auf die Jagd macht. Traut sich aber nicht.

Ihre Freundinnen versuchen, ihn mit ihren Fragen zu reizen: ob er nicht vielleicht lieber vegan leben wolle, wenn er doch immer nur Baumstümpfen hinterherrenne?

“Nein, will ich nicht.”

“Einfach schade, lieber Hund.”

Bald beginnt er sich sogar tagsüber kleine Gewichte an die Füße zu hängen und wenn er eine Bewegung wahrnimmt, sprintet er weiterhin einfach los. So schnell es geht. Die anderen denken: “Jetzt ist er völlig durchgedreht. Er jagt mit Gewichten an den Füßen Baumstümpfe.

Während ihre Freundinnen den Kopf schütteln, überlegt sich unsere Giraffe weiter, ihn anzusprechen.

Eines Tages fragt sie den Hund dann doch:

“Warum jagst du eigentlich immer? Ich frage mich das schon eine Weile, meine Freundinnen reden da immer drüber. Ich glaube, ich weiß, wie das für dich ist. Sie erzählen dir immer nur, wie viel mehr sie und die anderen erreichen, ohne sich so anzustrengen. … Aber … du willst doch nicht wirklich einfach nur Baumstümpfe jagen. Warum sprintest du für Baumstümpfe immer und immer wieder los? Das ergibt doch keinen Sinn… Baumstümpfe könntest du doch auch leichter haben… Warum jagst du ihnen dann hinterher?”

“Danke. … Danke, dass du versuchst, es zu verstehen. Ich weiß es nicht. Nicht so wirklich. Aber ich muss das einfach machen, seit… — Die anderen sehen, dass ich Baumstümpfe jage, weil ich mich damit einmal so blamiert habe. Heute habe ich es zu meinem Markenzeichen gemacht, weil es mich das Jagen lehrt. — Ich weiß, man glaubt mir das nicht, aber es ist toll. Es gibt mir Halt. Ich kann mich darauf verlassen: Da habe ich meinen Erfolgsmoment, auch wenn niemand an mich glaubt. Egal wie künstlich er ist. Und: Es ist Vorbereitung für — “

Dann sieht er in einem Kilometer Entfernung eine Antilope laufen. Eine wahrhaftige Antilope, kein Baumstamm, und er läuft. Holt auf… gibt alles. Die Beine gestählt vom Baumstämmejagen. Er kommt bis auf 500 Meter an die Antilope heran.

Dann springt sie ins Unterholz. Er wirft einen Blick über seine Schultern, sieht die anderen lachen. — Sie sehen die Antilope nicht, denken, er wäre wiedermal einem seiner Baumstümpfe hinterhergerannt. … Er … springt auch ins Unterholz.


Nach einigen Wochen kommt er zurück. Abgemagert. Das Fell verfilzt, Schürfwunden am verwundbaren Bauch. Sie sieht ihn als erstes: Am Abend des zwanzigsten Tages nach seinem Sprung ins Unterholz, schleppt er sich mit den letzten Sonnenstrahlen der Siedlung entgegen. Völlig erschöpft. Das linke hintere Bein zieht er ein wenig nach. Der ganze Körper ist ein einziges Wrack, nur die Augen strahlen. Überglücklich: Er hatte alles gegeben. Sie fragt nicht, ob er die Antilope erwischt hat. Für sie ist das auch nicht von Bedeutung. Sie sieht nur seine wachen Augen. Er macht den letzten Schritt auf sie zu, rollt sich zu ihren Füßen zusammen und schläft ein. Schläft zwei Tage durch.


Danach kommt er wieder in die Siedlung. Etwas hatte sich verändert, er war interessant, irgendwie süß. Sie finden gefallen. Noch immer ein komischer Kauz, aber wo die Worte hinter seinem Rücken zuvor Schmerzen hervorgerufen hatten, waren diese Schmerzen nun in eine Gleichgültigkeit übergegangen. Sie spürten das. Um verletzt zu werden, lies er niemanden mehr nah genug an sich heran, jetzt versuchten sie nicht mehr zu reizen, um zu verletzen, sondern reizten, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen:

“Na, hast du die Antilope bekommen?”

“Nein.”

Die erlegten Mosambik-Hasen erschienen ihm keine Erwähnung wert. Eine Notwendigkeit… Selbstverständlichkeit.

Im Augenwinkel wieder ein Bewegung:

LOS!

Baumstümpfe jagen.

Immer wieder: LOS!

Alle paar Monate verschwand er aber dann auch mal für viele Nächte im Unterholz. Irgendwann hören sie auf, ihn zu fragen, ob er Erfolg mit seiner Jagd hatte.

Als er eines Tages wieder zurückkommt, sucht er — wie so oft — erst einmal die Giraffe auf. Erst freut sie sich, wieder das Strahlen in seinen Augen zu sehen, die Freude weicht aber ihrer Besorgnis, als sie die Wunden an seinem Oberkörper sieht. Er sagt:

“Danke, dass du immer gefragt hast, warum ich etwas tue. Danke, dass du das Warum nicht von Vornherein angenommen hast. Danke, dass du dich für mich, nicht für meine Leistung interessierst. Ich kann dir noch immer nicht erklären, warum ich es tue, aber diesmal habe ich sie bekommen, … aber die Antilope zu erlegen, ist nicht alles.

Da draußen muss man seine Beute auch verteidigen, daran hatte ich nicht gedacht. Ich war so auf die Beute fixiert, dass mir das nie in den Sinn gekommen wäre. Ich musste sie verteidigen und habe es nicht geschafft. Die beiden haben mich um meine Beute gebracht, aber ich habe alles gegeben. Das nächste Mal denken die zweimal nach.”

Er rollt sich zusammen und schläft.


Hund und Giraffe verbringen weiter Zeit miteinander. Sie akzeptiert, dass der Hund weiter bei jeder Gelegenheit Baumstämme jagen geht, dass er teils Wochen von der Bildfläche verschwindet, pflegt ihn, wenn er immer öfter auch verletzt heimkommt. Aber, ob verletzt oder nur zu Tode erschöpft, immer mit diesem Strahlen in den Augen.


Zwischen zwei Büschen hindurch, gerade zum Sprung über einen umgestürzten Baum ansetzend, auf der Jagd, nimmt er Geräusche aus der Siedlung wahr. Hilferufe. An Stelle eines Satzes über den Baum hinweg, springt er mit allen Vieren gegen den Baum. Bremst so seinen Lauf und katapultiert sich in die entgegengesetzte Richtung.

LOS!


Nach wenigen Minuten bricht er aus dem Unterholz hervor, läuft über das freie Feld vor der Siedlung und sieht, was passiert sein musste. Sieht drei Wachen wimmernd am Boden liegen. Sie hatten den Kampf mit den beiden Löwen verloren. Diese hatten sich den Giraffen zugewandt und achteten nicht darauf, wer in ihrem Rücken angerannt kam. Einer der beiden blickt zurück, doch es war bereits zu spät: Der Hund reißt den größeren der beiden zu Boden und hat so die Aufmerksamkeit beider Löwen auf sich gelenkt. Steht jetzt zwischen ihnen und den Giraffen.

Jetzt heißt es zwei gegen einen, aber das war er bereits gewohnt. Sie kannten sich von seinen Ausflügen. Diesmal ging es allerdings nicht um seine Beute, sondern um seine Dame. Er hatte in jedem Kampf alles gegeben, aber diesmal würde er über sich hinauswachsen. Verletzt, am Boden liegend, würde er sich nicht ergeben, sondern kämpfen bis zum letzten Atemzug. Das waren keine Gedanken, die ihm in diesem Moment durch den Kopf gingen. Vielmehr war das, was in seinem Blick geschrieben stand, als er sich den beiden gegenüber sah. Heute würde er sterben oder Gnade walten lassen — das hatten sie im Unterholz auch getan. Er würde sterben oder Gnade walten lassen. Andere Optionen gab es nicht. So standen sie sich gegenüber. Zwischen ihnen flimmert die Luft in der Hitze. Er ist ganz ruhig. Kein lautes Aufplustern, nur ruhige Entschlossenheit und Bereitschaft. Den Blick immer auf die beiden gerichtet. — Die Augenblicke werden immer länger, bis die Augen des Anführer zu der einen Giraffe schweifen, vor der er sich aufgebaut hatte. Langsam kehrt der Blick wieder zu ihm zurück. … Dann nicken ihm die Löwen kühl zu. Wissend. Anerkennend. Sie verstehen.

Die beiden verlieren in diesem Moment nichts von ihrer Erhabenheit. Vermutlich hätten sie den Kampf gewonnen. Sie wissen das. Doch vollkommen synchron wenden sie sich ab. Die Spannung ist noch immer greifbar, lässt aber mit jeder Manneslänge, die sie sich entfernen, nach.

Im Hintergrund blicken die verletzten Wachen ungläubig auf das bizarre Bild: Die beiden Löwen schreiten im Gleichschritt majestätisch in Richtung Abendsonne. Zwischen ihnen und den Giraffen nur der Hund, der sich langsam umdreht, die seine anblickt und sagt:

“Jetzt weiß ich warum.”

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