Aristoteles: Nikomachische Ethik — Part V

Foto von Evan Kirby auf Unsplash

Wie man sich die Tüchtigkeit über die Sittlichkeit zum Schlüssel zur Selbsttranszendenz argumentiert.

“Und die Erinnerung an edle Taten ist genussreich, aber die Erinnerung an gehabte Vorteile ist es nicht eben oder doch weniger.”

Deswegen ist der tugendhafte Mensch schon im Wissen um diese Erinnerung ein guter Mensch. Als solcher nimmt er für die Tugend, die Ritterlichkeit und das hehre Ideal auch asketische Bemühungen in Kauf. Er vollbringt edle Taten und sagt “Nein” zu schnellem Glücksempfinden, wenn es einem größeren Sinn dient. Grabinschriften dieser Menschen lauten dann:

“ Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.” —Grabstein von Johann Friedrich Adolf von der Marwitz

Nochmal: Weil am Vergangenen die Erinnerung an gehabte Vorteile weniger genussreich ist als die an edle Taten, willst du ein tugendhafter und tüchtiger Mensch sein. Das wird belohnt, denn in diesen Erinnerungen schwelgend bist du ein glücklicherer Mensch.

Die Selbsttranszendenz des Künstlers

Die Liebe seines Werks, wenn dieses eine Seele bekommen würde, ist nicht Zweck der Kunst des Künstlers. Die Liebe des Künstlers zu seinem Werk wird — auch nach Beseelung des Werkes (der Möglichkeit Liebe zu empfinden)— die Liebe des Werkes zum Künstler noch immer übersteigen.

Der Künstler gibt sich selbst seinem Werk hin, um es dann umso mehr zu lieben. Er geht darin auf, sich hinzugeben ohne eine Gegenleistung zu erwarten.

So argumentiert Aristoteles… Ich habe mal versucht, das zu verbildlichen:

Kann man analog dann Folgendes schließen, um zufriedener zu arbeiten?

Der Sinn deiner Arbeit für die Arbeit selbst ist nicht Zweck deiner Arbeit. Wenn du dich mit deiner persönlichen Note in deine Arbeit einbringst, so übersteigt der Sinn deiner Arbeit für dich — auch nachdem du eine erfüllende Arbeit gefunden hast —den Sinn, den diese Arbeit für die Arbeit selbst ergibt.

Dennoch: Sich der Arbeit gänzlich ohne Gegenleistung hinzugeben, wäre nur dann angebracht, wenn diese Arbeit der einzige Lebenszweck ist. Es senkt aber zumindest die Erwartungshaltung an die Gegenleistung, lässt uns so den höheren Sinn unserer Arbeit für uns (im Vergleich zum Sinn für diese selbst) anerkennen. Es lässt uns Aufopferung (in Maßen) akzeptieren und zufriedener leben, im Wissen darum, dass unsere Arbeit weniger Anerkennung zugestanden bekommt, als ihr aus unserer Sicht zustehen würde.

Jetzt aber zur Sittlichkeit

Analog gibt sich der tugendhafte Mensch dem sittlichen Handeln hin. Sodass er sein Leben im Rückblick mehr lieben wird, als dies der Fall gewesen wäre, wenn er immer einen einfacheren (aber weniger guten) Weg gegangen wäre. Im Sinn der Arbeit für das Individuum selbst im Vergleich zum Sinn der Arbeit selbst ist argumentiert worden, warum dabei für ein Individuum auch sinnlose Aufopferung eine Rolle spielen wird.

Solch eine Aufopferung kann aber auch ganz anderer Gestalt kommen. So gehört es manchmal dazu auf der Lebensreise, einen unangenehmen Marsch zurück zu machen, um sich die letzte Abzweigung noch einmal genau anzusehen. Und dann: noch einmal genau den gleichen Weg zu gehen. Sinnlos. Bei der Tüchtigkeit und für den tugendhaften Mensch, gilt es, sinnloses Aufopfern zuzulassen. Dienen zu lernen.

“Denn es ist nicht leicht, für sich allein beständig tätig zu sein, dagegen ist es mit anderen und für andere schon leichter.”

Und die Tüchtigkeit ist eine Tugend. So muss der tüchtige Mensch, schon um tüchtig sein zu können, auch ein tugendhafter sein. Und die Tugend ist eine Tätigkeit, bei der wir auch zu lernen haben, uns selbst einmal außen vor zu lassen.

“Denn wenn jemand sich immer beeiferte selbst mehr als alle anderen die Werke der Gerechtigkeit, der Mäßigkeit oder sonst der Tugend zu üben, und wenn er überhaupt das sittlich Schöne immer für sich in Anspruch nähme, so würde bei einem solchen Mann niemand von Selbstliebe reden und niemand ihn tadeln.”

So kamen wir also von der Tüchtigkeit über die Tugend zur Selbsttranszendenz. Jetzt viel Spaß beim Selbsttranszendieren.

Fazit

Zu akzeptieren, dass du mehr gibst als du zurückbekommen wirst, dich einem Werk, deiner Arbeit, einem anderen Menschen oder Instanz hinzugeben, geht uns in unserem Pochen auf einen individualistischen Humanismus oftmals verloren. Damit aber auch die Möglichkeit zur Selbsttranszendenz: einem Sinn, den da ein Mensch erfüllt, der nicht wieder in ihm selbst liegt.