Hey Diego,

ich weiß, du willst das nicht hören, weil darauf unser Weltbild beruht. Wir denken sehr ähnlich. Du sollst wissen, dass ich nur so argumentiere, weil du die Extremposition im Optimierungswahn einnimmst.

Jedem anderen würde ich sagen: “Reiß dich mal zusammen. Mach erstmal. Problem analysieren, den nächsten Schritt gehen. Und den nächsten. Und den nächsten. Dann können wir weiterreden.” Aber wir sind nicht wie alle anderen. Deswegen fühle ich mich dazu genötigt, die Gegenposition einzunehmen.


Rational kann ich dir vielleicht mit einem großen Denker kommen: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Nehmen wir einmal das hegelsche “Konstrukt” des Weltgeistes. Ich glaube, damit könntest du was anfangen: der Idee von einem “Endzweck” der Weltgeschichte. Diesem Ziel — das gefällt uns doch ;) — nähert man sich aber leider nicht geradlinig an, vielmehr bilden sich immer wieder Thesen, dazu dann eine Antithese, um dann diese beiden zusammenzuführen: zur Synthese.

Ich weiß nicht, ob unser Optimierungswahn These oder Antithese ist, mich beschleicht jedoch das Gefühl, dass er zumindest nicht Synthese ist… schon gar nicht Endzweck…. vielleicht sogar wenig weltgeistdienlich? Hmm…

Wäre weltgeistdienliches Handeln zwar komplizierter, aber eben auch schöner als Optimierung? Eine Herausforderung, die es zu meistern gilt? … Lass mal mehr weltgeistdienlich handeln. Optimierung ist kein Selbstzweck.


Aber erstmal: Warum eigentlich der ganze Optimierungswahn? Was wollen wir damit erreichen?

In der Kindheit waren wir beide verletzlich. Du hast das deutlicher zu spüren bekommen als ich. Das war falsch.

Diese Verletzlichkeit der Kindheit versuchen wir beide zu kompensieren.Das versuchen doch irgendwie alle :/ und wir sollten uns nichts vormachen: Wir sind noch immer verletzlich, aber das ist kein Makel. Das ist eine Chance, eine Chance für das Gemeinschaftsgefühl.

Ich sag dir mal, wie das eigentlich laufen sollte: Ein Kind sollte aus seiner Verletzlichkeit gelehrt bekommen, dass es darin aufgefangen wird, dass “erst die Gemeinschaft, nicht die Isolierung (!) [imstande ist], dem Lebensdrang des Einzelnen zu genügen, ihm Sicherheit und Lebensfreude zu gewährleisten.”* So sollte es lernen, sich auf andere Menschen zu verlassen, sich mit ihnen zusammen zu tun. Aber: In diesem Prozess werden wir alle auch einmal enttäuscht werden. … Manche früher, manche schlimmer, manche öfter… So kann ein Kind bewusst oder unterbewusst Gefühlsscheu entwickeln, “Zärtlichkeit mit dem Eindruck von Lächerlichkeit verbinden”*. …

Zärtlichkeit mit Lächerlichkeit verbinden? Wie perfide ist das bitte? Aber…

… Ich wurde da nachdenklich als ich das las. Deswegen wollte ich, dass du da auch mal drüber nachdenkst. … Zärtlichkeit und Lächerlichkeit verbinden …


Wenn man aber beginnt die Isolierung wertzuschätzen, weil sie einen vor der Lächerlichkeit bewahrt, weil sie Verletzlichkeit verbirgt und Gefühle außenvorlässt — und das tut sie — , dann nimmt man nicht nur sich die Sicherheit und Lebensfreude der Gemeinschaft, sondern vor allem den weniger kaputten Menschen, denjenigen die noch Verletzlichkeit zulassen, den Kindern, die Möglichkeit dieses Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln.

Das will ich nicht, auch wenn es schützt. Das müssen wir beide verstehen. Das kannst du auch nicht wollen.

Das meine ich mit: Optimierungswahn erstickt Mitleid.


Klar, wir lassen keine Ausreden zu. Nochmal. Klar: “Problem analysieren. Ich kann jetzt X, Y oder Z machen. Also: Ausprobieren. Machen. Step for Step.

Aber trotzdem Mitleid — vielleicht drücke ich es für dich (und mich) besser als ‘Demut vor der Komplexität der (Gefühls-)Welt eines jeden Menschen’ aus — darf man dabei nicht auf der Strecke lassen.

Anderen Menschen Ausreden erlauben, weil diese Erlaubnis der Anfang für die wirklichen, dahinterliegenden Gründe sein kann. Ihnen die Möglichkeit geben kann, sich zu öffnen. Verletzlichkeit (wieder) zuzulassen.

Deswegen: Versuche — bitte — Verständnis zu haben. Auch wenn der nächste Schritt (für uns) auf der Hand liegt, andere Menschen aber irgendwie nicht bereit sind, ihn zu machen. Nicht jeder kann und soll so stark sein, dass er seine Probleme mit sich ausmacht, man sollte auf die Gemeinschaft bauen können, wenn man einen nächsten Schritt machen will, aber Angst hat oder am Boden liegt. Dann wollen vielleicht auch mehr Menschen einen nächsten Schritt machen.

Sonst sind wir nicht besser als die Menschen, die Kindern nicht erlauben, verletzlich zu sein. Die Zärtlichkeit mit Lächerlichkeit verbinden, die über die verletzlichen Seiten eines Kindes spotten.

Dazu kommt: In einer Welt, in der dann jeder dazu gezwungen wäre, zu optimieren, will ich nicht leben. Warum? Man optimiert zu einem bestimmten Zweck, nicht um zu optimieren. Außerdem — um mal in unserer Denke zu bleiben — was wenn nicht-optimierender Weise dann doch noch Optimierteres gefunden wird. Wenn wir nur noch Optimiertes zulassen, dann bleibt kein Raum mehr, um neue Wege zu gehen, sich zu verlaufen und so Neues zu entdecken. Dann bleibt kein Platz für Spaziergänge mehr. Manchmal scheint es so, als würden sich “die anderen” geradezu verlaufen wollen und wir rollen unsere Augen.  Aber dann lass uns doch lieber auch die Menschen unvoreingenommen aufnehmen. Nicht sagen: “Warum bist du nicht einfach weiter den nächsten Schritt auf der Straße gegangen. Wäre doch offensichtlich gewesen.

Das ist einfach ein Thema, das mich in letzter Zeit beschäftigt und auf welches ich immer wieder in Verbindung mit dem “Silicon Valley”-Mindset etc. stoße: Empathie geht in zu großem Maße verloren. Und: Das ist ein Preis, den ich nicht zahlen will.

Lass uns Verständnis für Menschen, die dem Optimierungswahn nicht verfallen, aufbringen und stattdessen Demut vor der Komplexität der (Gefühls-)Welt anderer Menschen haben. Dafür könnten wir uns zu leicht doch nicht auf dem weltgeistlichen Pfad, sondern auf einem antithetischen befinden.

Gleichzeitig weiß ich, dass du das Zeug hast, zu deinen Zielen zu kommen, weil du bereit bist jeden Schritt zu gehen. Ich weiß, dass all die Optimierung dir dabei hilft, dass du alles erreichen kannst, weil du den Pfad immer besser ausleuchtest. Das ist bewundernswert!

Hau rein!
Marco

*Zitate von Alfred Adler