Abgrenzung einzelner Individuen und Gruppen

Thanks to: Jez Timms
 
Alfred Adler fällt ein hartes Urteil:

“In solchen Fällen entsteht meist das Bild eines Menschen, der wohl niemand etwas zuleide tut, sich aber vom Leben und von den Menschen zurückzieht, jeden Anschluß vermeidet und in seiner Einsamkeit den andern seine Mitarbeit versagt. Da aber die Aufgaben der Menschheit zum größten Teil nur in gemeinsamer Arbeit gelöst werden können, ist ein Mensch, der sich isoliert, derselben Feindseligkeit verdächtig wie einer, der die Gemeinschaft offen und gradlinig angreift und schädigt und ihr auf diese Weise die zu ihrer Erhaltung notwendigen Mittel vorenthält.”

Und dennoch ziehen sich viele Menschen zurück. Susan Cain argumentiert in ihrem Buch “Quiet”, dass introvertierte Menschen, ihre Kraft aus den Stunden alleine ziehen, während Extrovertierte in Gesellschaft Energie tanken. Aber es geht hier nicht um Extroversion und Introversion, sondern um das bewusste Zurückziehen in die Isolation, insbesondere aus Optimierungsgründen.

“Mit Peter sprichst du nicht über das Wetter, sondern wie du die Welt veränderst!” — aus einer Folge InsideQuest über Peter Diamandis

Ein Zurückziehen aus dem Löwenanteil der Gespräche. Wetter, Fußball, Politikerbashing, Jammern. Nicht: Welt verbessern.

“Vor allem ziehe eines in Betracht: Lasse dich nie so stark an Bekannte und Freunde binden, dass sie dich auf ihr Niveau herunterziehen. Wenn du diese Regel nicht beachtest, bist du ruiniert. […] aber alles hat seine Kosten. […] Wähle, ob du von diesen Freunden geliebt werden möchtest und immer derselbe bleibst; oder dich auf Kosten der Liebe dieser Freunde verbesserst. […] Wenn du beides versuchst, wirst du weder Fortschritte machen noch das behalten können, was du einmal hattest.” — Epiktet “Lehrgespräche” (4. Buch, 2. Kapitel) (Seite 319)

Hart.

Man sollte meinen, es ließe sich die Zurückgezogenheit einzelner Gruppen als gemeinsame Basis zwischen Epiktet und Alfred Adler finden. Die einen drehen sich um sich selbst, bleiben unter sich, verbessern sich und eine Welt, die damit zufrieden wäre, in Ruhe gelassen zu werden. Die anderen schimpfen über die Welt, die sich um sich dreht und noch immer in Ruhe gelassen werden will.

Es entstehen Gruppen.

Adler und Entlein.
Weltverbesserer und Weltbevölkerung.
Hart Arbeitende und Faule.
Genussmenschen und Workaholics.
Veganer und Ausbeuter.
Kreative und Stumpfsinnige.

“Lebenseinstellungen bleiben bei denen, die sie leben /
Segelyachten kann man stehlen”
— NMZS & Danger Dan

Es entsteht der Hang einzelner Gruppen, sich über andere zu stellen, wodurch die Gefahr der Feindseligkeit steigt. Das bewährte System, Abgrenzung, stärkt erstmal den Zusammenhalt innerhalb der Gruppe. Aber: Die Weltverbesserer sind nicht geeignet, voranzugehen und Kulturfortschritte zu fördern, wenn sie sich von der zu verbessernden Welt abgrenzen.

Stattdessen?

Es ist viel verlangt, dass die Gruppen voneinander lernen: Adler Entlein für ihre schillernden Farben bewundern. Aber es wäre ein Anfang, nicht zu werten.

Hart arbeiten und weder neiderfüllt noch überheblich, Faulheit anderer zur Kenntnis nehmen. Einfach: “Aha. Ok. Das ist dann nun mal so.
Spaß haben, ohne dem anderen vorzuwerfen, nicht loslassen zu können.
Aus Überzeugung vegan leben. Lebenseinstellungen leben.

Für Gruppen gilt: Statt — wie bei Epiktet — nicht “auf ihr Niveau herunterziehen” lassen, gar nicht erst Niveaus zuteilen. Wenn die Abgrenzung ausbleibt, erstaunt es nicht, wenn die Weltbevölkerung die Welt verbessert, Faule arbeiten, Ausbeuter vegetarisch essen, Workaholics nicht outburnen.

Für das Individuum gilt darüber hinaus: Egozentrische Optimierungen spielen eine Autonomie vor, die es in dieser Reinheit nicht gibt. Wir alle Leben in komplexen Systemen. Wir leben in Beziehung zu unserer Umwelt. Ohne diese könntest du deine Leistungen nicht vollbringen. Wir passen unsere Präferenzen teils an die Gesellschaft an. So basiert unser heutiger Standpunkt auf unserer Geschichte: auf den Gesprächen mit Jugendfreunden, Familientreffen, Büchern, prägenden Erlebnissen und anderen Einflüssen. Ohne diese wärst du heute nicht, wer du bist.

Deswegen auch Demut vor deinem — womöglich auch hart erarbeiteten — Glück, insbesondere wenn andere nicht-nachvollziehbar handeln. Kein Grund für dich, nicht-nachvollziehbar zu handeln, aber: Vielleicht sind sie sich nie ihrer Selbstwirksamkeit bewusst geworden. Hatten keinen schuppenvondenaugenfallenden “Fuck! Ich habe selbst in der Hand, wer ich bin!”-Gedanken. Niemanden, der ihnen eine Alternative zu einem schädlichen Freundeskreis aufgezeigt hatte. Keinen Nachbarn, der die Begeisterung für einen Sport geweckt hat. Nicht den einen Menschen, der an sie geglaubt hat.

Wer war diese Person für dich? Kann sie für dich sein? Wer trägt dazu bei, dass du an dich glaubst?

Fazit

Zurückziehen aus schädlichen Umgebungen kann notwendig sein. Achte aber darauf, nicht auf andere herabzusehen. Das Leben wird auch durch unvorhergesehene, externe Einflüsse geprägt. Sie werden weiterhin ihrer ganz persönlichen Lebensaufgabe folgen: unvorhergesehen beeinflussen.

Für dich stehen, aber innerhalb eines komplexen Systems, heute Entscheidungen an. Basierend auf möglichen belebenden oder schädlichen Umgebungen, wirst du deinen Pfad im System wählen. Dein Selbst von morgen wird selbst- und fremdbestimmt geprägt werden. Mit vielen möglichen Abzweigungen, liegt es auch bei dir, welchen Pfaden du in diesem System folgst. Von welchen Einflüssen du fremdbestimmt werden willst. Wenn du keine Zerstörung hinterlassen willst, mach nichts mit Menschen, die dich oder andere immer wieder zerstört hinterlassen.

Du weißt selbst, welcher Gemeinschaft du mehr Zeit schenken solltest, wem weniger, welche Umgebung dich belebt, welche dir schadet. Schnapp dir einen Stift und zieh eine Linie in der Mitte eines Blatt Papiers. Rechts schreibst du, was du mehr machen solltest und links die schädlichen Tätigkeiten, die dir die Zeit dafür schenken.

Floreant Dendritae
Marco
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Epilog in Gedichtform:

Bestie II