Foto von Zoriana Stakhniv auf Unsplash

Lieber Søren,

ich habe dein Buch gelesen, dein “Entweder-Oder” und ich muss sagen… ich bin beeindruckt. Ob ich es verstanden habe? Keine Ahnung.

Mag sein, dass der folgende Artikel auch der Versuch ist, in einer kleinen Geschichte, Bruchstücke deiner Ideen auf unsere Zeit zu beziehen. Du beschreibst es als die “Gültigkeit der Ehe”. Ich versuche eine Geschichte zu zeichnen, die heute in Berlin spielen könnte; in der ein Typ versucht, die Zweifel, die wir alle kennen, zu verstehen und seinen Freunden zu zeigen, dass sie trotz all der Zweifel immer eine Wahl haben.

Und mit dem ganzen Geschreibsel will ich wesentlich nur sagen: Leben und leben lassen. Nur, weil man die Möglichkeit eines lebenslangen Bundes zweier Menschen für einen selbst nicht sieht, nicht andere für ihren Glauben daran belächeln.

Dein
(ziemlich begeisterter) Marco


Wir sitzen irgendwo in Neukölln, fast Kreuzberg, mit ein paar Studenten (Spanisch, Wirtschaftsinformatik, Pädagogik und Biologie) um einen Kasten Bier. Obgleich das eigentlich nichts zur Sache tut. Genauso gut könnten wir — als von unseren Eltern finanzierte und wegen der Versicherung noch bei einer guten Uni eingeschriebene Entrepreneure — bei einem Abendessen in Berlin Mitte zusammensitzen. Mit einem großen Topf Chili sin Carne vor uns, hätte Mia als krönenden Abschluss in kleinen Einweggläsern Chia-Mango-Pudding mit Erdbeeren mitgebracht. Im Hintergrund würde Johnossi “Mavericks” laufen und wir wären alle mit dem Fahrrad gekommen: ein letztes gemeinsames Abendessen, bevor wir alle gemeinsam in den Urlaub fliegen.

So sind wir allerdings keine Entrepreneurs. Aber jung. Wir belächeln diese philanthropischen selbsternannten Macher, die glauben, etwas verändern zu können; unsere Kommilitonen, die sich gänzlich fremdbestimmt im Hamsterrad zu Tode strampeln; und unsere Eltern, die einfach nur vor sich hinleben. Jetzt, unter Gleichgesinnten, vermitteln wir glaubwürdig, nicht so viel an die Zukunft zu denken. Beziehungsweise: an die Zukunft denken wir schon, aber nicht so viel an … so ganz konkret … unsere Zukunft.

Ich gehe aufs Klo, stelle da fest, dass mir dieser Pennerlook auch steht; beschließe, sobald ich wieder in die Runde zurückkomme, mit fester Stimme die acht magischen Worte zu sagen:

Leute… Es ist in Ordnung, heiraten zu wollen.

Mit der Hand am Türknauf, male ich mir mein stürmisches Plädoyer für die Unendlichkeit der Liebe aus.

Erst geht ein schockiertes Raunen durch meine liebenswürdigen, links-liberalen und ein bisschen kaputten Freunde. Ein kurzer Moment der Stille.

Auch, wenn sie nicht verstehen, was in mich gefahren ist, kennen sie sie doch: die Gedanken, diesen Wunsch nach Kontinuität. Dann erklären sie mir, dass er Ausdruck einer Angst vor einer ungewissen Zukunft ist; dass sie mich dafür nicht verurteilen, aber… ich wüsste es doch selbst. Sie hätten nicht gedacht, dass ich so naiv wäre. Ich müsse doch wissen, dass das ein Festklammern an alten Strukturen ist. Früher waren solche Zweckgemeinschaften und Bünde fürs Leben notwendig. Jetzt sind wir darüber hinweg. Die Gesellschaft kann uns nicht mehr zwingen.

Lieber frei sein. Keine belastenden, einengende Klammern eines Bundes. Voll dem Moment hingeben. Bei Zeiten einmal eine Lebensabschnitts-Partnerschaft eingehen, um den Beweis anzutreten, dass eine Partnerschaft fürs Leben nicht funktionieren kann. Denn, wer weiß schon, ob man in vier Jahren nicht vielleicht ein Jahr Mini-Retirement auf Bali macht und in einer neuen Kultur womöglich ganz andere Seiten von sich selbst entdeckt, ausbricht und ein neues Leben beginnt. Dann macht so eine feste Bindung beiden Seiten nur Schwierigkeiten. Deswegen gar nicht erst die gefährlichen Träume wecken; gar nicht erst versuchen.

Doch in diesem Denken gibt es einen grundlegenden Fehler, der in der Konstruktion des Gedankengebildes selbst steckt. Ein simpler Test gefällig? Versuch dieses — womöglich das eigene — Handeln, leuchtenden, neugierigen und interessierten Augen zu erklären. …


Das ist aber nicht die einzige Weise, auf die man es herausfinden kann. Würde ich mit meinen Freunden einzeln unter vier Augen in einem dieser Gespräche, bei denen man langsam im Austausch die eigene Realität auseinandernimmt, beleuchtet und vorsichtig neu zusammensetzt, zusammensitzen; in einem dieser Gespräche, bei denen danach — an den neuen Verbindungsstellen noch etwas unbeholfen und labil — eine echte Veränderung in Gang gesetzt wurde; würde ich mit jedem meiner Freunde einzeln in solch Gesprächen zusammensitzen; es nicht nur einmal, sondern mehrere Male führen, um sich dabei zwar im Kreis zu drehen, aber durch das Umkreisen eben auch immer wieder eine neue Perspektive einzunehmen; dann könnte der Fehler erkannt werden. Das ist möglich, weil die leuchtenden Augen durch eine Bereitschaft für Verletzlichkeit ersetzt wurden und es nie nur einen Weg zur Veränderung gibt. Und doch sind das die Gespräche, die wir alle zwar ängstlich scheuen, aber noch sehnsüchtiger suchen. Einer von vielen Kämpfen in uns.

So versuche ich meinen Freunden den Fehler — soweit ich ihn erkenne — zu beschreiben. Der Fehler ist, der Versuch im Moment eine Erfüllung zu finden, die über den Moment hinausgeht. Das ist per definitionem zum Scheitern verurteilt. Mit dem Ausschluss der Unendlichkeit in der Konstruktion jedes ihrer Liebesspiele, kann sie nicht zum Vorschein kommen. Ich will der Konstruktion damit nicht das spielerische Element nehmen, sondern die Annahme der Endlichkeit. Denn mit dem jetzigen Aufbau des Spiels ist ihre Beweisführung ein Zirkelschluss. “Siehst du, es ist nicht möglich. Der Mensch ist nicht für derartig ernste Bünde gemacht. Hab ich’s dir nicht gesagt?” Mit ihrer Annahme haben sie die Unendlichkeit ausgeschlossen, bestätigen dann ihre Annahme.

Und doch zeigt einem die Beobachtung, dass ihnen dieser Fehler (der Fehler in der Konstruktion des Spiels), beim Versuch zur Ruhe zu kommen, dämmert. — Sind ja alles intelligente Menschen und es ist auch nicht so als würde sie das Thema nicht beschäftigen. Wenn sie sich nicht ihre Gedanken machen würden, würden wir hier heute nicht zusammensitzen. —

Aber so passiert es ihnen dann und wann: In den klaren Augenblicken, wenn der Lärm des Alltags oder die Bässe der Musik, für einige Herzschläge aussetzen. Die Erkenntnis des Fehlers fährt in sie. Die tief versteckten Zweifel können dann nicht mehr als verletzter Stolz abgetan werden und sie treffen mit voller Wucht. Sie werfen sie im Bett hin und her. Dann wird auf das altbekannte Mittel zurückgegriffen: in die atemlose Betriebsamkeit zurückstürzen.

Die Zweifel entstanden bei den meisten von ihnen bereits früh, mit dem Aufschieben der Wahl: Entweder — Oder. Dann kam das Verleugnen, dass es eine echte Wahl gibt. Doch die Zweifel zeigen an: Es gibt sie. Denn das, was ist, ist eine Wahl. Weil sie da ist, ist sie auch Teil des Spiels.

Wählt man, so kann das Ja-Sagen zu etwas, das mehr ist als bloße Stimmung, die emotionale Schwankungen überdauern, sodass sich darin die Kontinuität offenbaren kann, die im stetigen Auf und Ab der Stimmung verborgen liegt. Die Kontinuität ist das ruhige Kugellager, um das sich ihr Spiel dreht und trotzdem ist das Kugellager noch immer Teil des Spieles.

Foto von ian dooley auf Unsplash

Durch die Wahl eines bestimmten Spiels, wird die Stimmung nicht verschwinden, aber man kann erkennen, dass sie Bestandteil ist. Wählt man jedoch nicht, löst stattdessen jedes Spiel aufs Neue auf und beginnt das nächste; so kann sich die Kontinuität, die die Stimmung überdauert, nicht aus dem Nebel der Unzahl an unterschiedlichen Spielen schälen, weil jedes Spiel sein eigenes Auf und Ab hat; sich jedes Spiel vom nächsten unterscheidet, jedes Spiel jedoch seine eigene Kontinuität hätte, wenn man ihm Zeit geben würde, sich zu zeigen. Und dann — dann könnte man wählen. Verneint man die Wahl aber von vornherein, so kann sich die Kontinuität nicht zeigen. Jedes einzelne Spiel bleibt undurchschaubar und die Zweifel werden damit immer überwältigender. Erkennt man hingegen die Wahl einer zugrundeliegenden Kontinuität an und hört dann in sich selbst hinein, so wird man wissen, was es zu wählen gilt.

Man erkennt, dass etwas Ernstes in den Zweifeln liegt, das nicht dadurch verschwindet, dass die beidseitige Übereinkunft war, erstmal einfach nur Spaß zu haben. Etwas, das nicht dadurch legitimiert wird, dass es “ja nur ein Spiel” ist. Der Ernst ist Ausdruck davon, dass die Zweifel in der Konstruktion ihres einen Spiels und im Ausschluss der Unendlichkeit liegen; nicht im Spiel per se. Nicht das Spiel ist Schuld daran, sondern ihre Konstruktionsweise. Anders ausgedrückt: Nicht im Definierenden der Kategorie “Spiel”, sondern in der selbst vorgenommenen Einschränkung ihres Elements “Spiel X”: Dem Ausschluss der Unendlichkeit.

Mit dem Ausschluss verliert man die Übereinkunft in diesem einen Spiel, als eines von vielen, gewinnt aber den schönen, erotischen Ernst des einen unendlichen Spiels; gewinnt den erotischen Ernst, einer Wahl, bei der ein “Ja” stärker ist als unendlich viele “Neins”. Die Qualität eines Spiels ersetzt die Quantität eines Spiels nicht nur, sie macht die Quantität irrelevant, weil sich das eine, unendliche Spiel nicht mehr vergleichen lässt.

Hierin liegt der Schlüssel aus den Zweifeln. Wo die Abstraktion aus der Quantität vieler Spiele heraus, ein leeres, einsames und zweifelndes Individuum hinterlässt; kann aus der Qualität eine wohlige Dyade entstehen. Denn nicht im immer wieder neue Spiele konstruieren, die bei der ersten ernsten Aufgabe wieder aufgelöst und neu gebildet werden; sondern nur im immer wieder anpassen müssen, findet man zu sich selbst. In diesem einem, dem unendlichen, Spiel, findet man zu sich selbst. Es ist ein relatives Selbst, das — wie die Erinnerung eines Greises an seinem Lebensabend — erst im Verbund mit einem anderen Menschen seinen absoluten Wert erhält.

Vielleicht kann man jetzt den Irrsinn unseres Zeitgeistes erkennen, sich nur die strikte Autonomie als höchsten Wert zu halten. Aber nein: Lebenslange Bindungen eingehen… Das ist rückständig.

Meine Hand dreht den Türknauf.


Down to earth, will ich sagen:

Leben und leben lassen.
Manch jugendlich süffisante Stimme, der wirklich schwere Zeiten erst noch bevorstehen, jetzt aber schon von oben auf eine echte Stütze in der Lebensrealität vieler Menschen hinabsieht, mag damit unangenehm panisches Zurückrudern verhindern. Deswegen muss sich nicht jeder in eine auf ein gemeinsames Leben ausgerichtete Verbindung zwängen, aber es sollte auch niemand, nur weil man selbst nicht sieht, wie dies möglich sein sollte, alles daran setzen, andere für ihren Glauben daran zu belächeln.