Ein Brief an einen Freund

Foto von Cathal Mac an Bheatha auf Unsplash

Hey Großer,

gibt mal wieder was zu sagen.
Es geht um einen nicht zufriedenzustellenden Vater.

Es geht darum, Verantwortung für etwas zu übernehmen, das du heute tust; wovon ich noch nicht mal sicher weiß, ob du dir schon bewusst bist, dass es teils noch eine Reaktion ist. Und auch wenn der Weg erstmal paradox wirken wird, will ich darauf hinaus, dass du nicht mehr jeden Fehler nur bei dir suchst.

Erstmal war da ein Vater, der einen hohen Anspruch an sich hatte, aber das in erster Linie nach außen trug, indem er an alle Menschen in seiner Umgebung einen unangebracht hohen Anspruch stellte. Das formte diese Menschen. Insbesondere einen kleinen Menschen in seiner Umgebung. Stell’ dir mal vor: jemand, mehr als doppelt so groß wie du, von dem du glaubst, dass er auf alles eine Antwort hat, steht vor dir und sagt dir, dass du nicht so gut bist, wie du es sein solltest; dass du deine Aufgaben nicht so gut erledigst, wie er das von dir erwartet; dass du besser sein solltest. Das prägt einen.

Mit dem Text will ich aber gar nicht primär auf die Vergangenheit eingehen, als vielmehr auf eine Aufgabe, die wir alle haben. Deswegen nehmen sie nicht alle an, aber sie wäre für jeden da und jeder wäre gut beraten, sie aufzunehmen. Die Aufgabe ist, was auch immer man an Traumata, schwierigen Erlebnissen oder fehlender oder übermäßiger Zuneigung mit auf den Weg bekommen hat, zu verstehen; sie aber nicht von da an alles bestimmen zu lassen: weder sich in gegenteilige Verhaltensweisen zu stürzen, noch es nachzuholen, wenn man selbst einmal dazu in der Lage ist.

Was ich damit meine, ist: Wenn du heute zu harsch mit dir ins Gericht gehst und nie so gut sein kannst, wie du es von dir erwartest, sollst du erkennen, dass das durch einen nicht zufriedenzustellenden Vater, der zudem noch eigene Fehler, seiner Umgebung unterstellte, ausgelöst war; diese nahm das dann auf und sagte sich: “OK, jeder Fehler liegt bei mir.” Mit der Annahme, dass das ein Grund ist für deinen zu geringen Selbstwert und mit der Annahme, dass du bereits vor dem Text angedacht hast, dass es auch das war, was dich zu manchmal zu extremen Anforderungen an dich selbst, den damit einhergehenden schädlichen Schuldgefühlen und Selbstkasteiungen geführt hat; mit dieser Annahme und im Bewusstsein, dass ich es dir einerseits als Freund sagen sollte, dass es mir andererseits aber nicht zusteht, weil ich das Problem in dieser Form nicht selbst erlebt habe, will ich dich darauf aufmerksam machen, dass es heute du bist, der zu harsch mit dir ins Gericht geht. Wenn du dir heute selbst die Anerkennung, die dir zusteht, nicht geben kannst oder dir unangebrachte Vorwürfe machst, dann ist das wahrscheinlich noch immer die unreflektierte Reaktion auf Verhaltensmuster deines Vaters; dann kontrolliert das noch immer dein Handeln. Aber er hat dafür jetzt nicht mehr die Verantwortung.

Ich will dir einen Weg aus unangebrachten Schuldgefühlen zeigen, indem du erst (noch einmal) den Auslöser erkennst, dann siehst, dass du selbst daran arbeiten kannst und die Entscheidung triffst, dass es besser werden soll; du bereit bist, dich dazu zu verändern. (Das haben wir schon einmal in einem unserer Gespräche angeschnitten: sich als das zu sehen, was sich beständig selbst verändert. Oder?)

Heute ist es deine Entscheidung, ob du die Verhaltensweisen deines Vaters weiterhin dein Handeln und dein Leben bestimmen lässt. Tust du es nicht, hast du eine Last mehr auf den Schultern; kannst an dieser Last aber auch etwas ändern, sie selbst wählen und kannst sie auch mit Freunden teilen. Versteh’ mich nicht falsch: Du sollst auch weiterhin hohe Anforderungen an dich stellen. Du sollst sogar weiter bis an die Grenzen — und auch mal darüber hinaus — gehen. Aber dann aus einem selbstbestimmten Motiv heraus und am besten noch in einem gesunden Maß, wodurch du im Endeffekt sogar noch mehr erreichen kannst.

Früher hatte die Verantwortung jemand anders und das war leichter. Dafür gab es damals auch nicht die Möglichkeit für uns, es zu formen. Heute heißt es Abschließen und sehen wo dein Vater oder andere Erlebnisse in der Vergangenheit, deine Handlungen bestimmen.

Durch dieses Abschließen und Integrieren der Vergangenheit muss jeder durch, weil die Kindheit (und das Leben) einen vor Herausforderungen stellt, die zu groß für einen sind. Jeder entscheidet dann, ob er die Aufgabe aufnimmt oder sein Verhalten weiterhin Reaktion sein lässt und damit einen möglichen Teufelskreis weiter anfeuert. Dann aber auch mit den Konsequenzen lebt. Bei dem einen geht das Integrieren vielleicht geschmeidiger, weil er es leichter hatte, einfach Glück hatte oder genau das richtige Maß an Unterstützung hatte; bei einem anderen ist es schwieriger, weil ein dominanter, nicht zu befriedigender und zu der Zeit scheinbar allmächtiger Vater, nicht versteht, was es für ein Kind bedeutet, nie etwas richtig machen zu können.

Aber heute ist das Kind kein Kind mehr und deine Aufgabe ist, dich — auch wenn dich die Vergangenheit geprägt hat — hinsichtlich der Frage, ‘wer bestimmt, wer ich bin’, abzukapseln und ein eigenständiger Mensch zu sein, der an seinen Schwächen arbeitet und seinen Vater als einen anderen Mensch auf Augenhöhe sieht, der auch Schwächen hat. Damit du so dann deinen eigenen Weg gehst; nicht seine Fehler wiederholst, aber auch nicht blind in das Gegenteil verfällst. In deinem Fall: jeden Fehler bei dir zu suchen. Es gibt einen Unterschied zwischen einerseits Verantwortung übernehmen und selbstkritisch sein und andererseits immerzu jeden Fehler nur bei sich zu suchen. Das Zweite zu tun, ist die Reaktion eines Kindes auf Ungerechtigkeiten, die es empfunden hat und jeden Grund dazu hatte, so zu reagieren. Es ist nicht die gesunde Integration der Erlebnisse in seine Persönlichkeit, was unsere Aufgabe ist.

Das ist alles, was ich sagen wollte. Vielleicht war das jetzt ein bisschen viel. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob es mir zusteht, dir das zu sagen; weiß auch, dass es einerseits damit nochmal schwieriger wird, selbst die Verantwortung zu übernehmen. Gleichzeitig wird es aber eben auch freier, sodass sich dann etwas verändern kann. Ich denke, dass — auch wenn der Prozess ein schwieriger ist — wirklich etwas für dich und alle Menschen in deiner Umgebung gewonnen ist, wenn du diese Aufgabe bewältigst… und… wie gesagt, mit der Aufgabe bist du sicher nicht allein. Vor allem glaube ich aber, dass du sie meistern kannst.

Frag’ dich also: Wo ist mein Denken heute noch Reaktion und wie würde es nach einer gesunden Integration aussehen?

Ein Freund.