Geschichte und Gedicht
Foto von Roland Larsson auf Unsplash

 

Sie kommt sehr nahe an mich heran, während ich in einer Menschenmasse knie. Alle schauen nach vorne — auf einen Punkt oder eine Bühne. Alle in eine Richtung. Ich sehe stattdessen nach links, wo sie herkommt; sie kommt näher auf mich zu, in die Menschenmasse hinein — durch sie hindurch — sieht mich dabei nicht an, blinzelt nur einige wenige Male zu mir hin. Sie weiß, dass ich sie sehe. Sie kommt näher auf mich zu. Bis kurz vor mich. Ihr wissendes Lächeln — das wissende Lächeln, das zeigt, dass sie weiß, dass ich sie gut finde; das wissende Lächeln, das einmal nur gespielt war, um sich zu schützen, um mir nicht zu zeigen, wie gut sie auch mich findet — das wissende, amüsierte Lächeln… ist heute echt.

Sie kommt näher auf mich zu, bis kurz vor mich. Nur noch zwei Menschen trennen uns. Vor dem Typen, zwei Menschen vor mir, bleibt sie stehen. Himmelt ihn an. Er sieht nicht besonders aus. Aus seinem T-Shirt (in einem schmutzigen Gelbton) kommen zwei ganz normale Oberarme raus. Nicht besonders dünn, nicht besonders dick — ganz normal halt. Sie himmelt ihn an, weil er so viel erlebt hat. — Natürlich hat er viel erlebt, er tut ja auch nichts! — Während sie ihn anhimmelt, weiß sie, dass ich sie ansehe und das gefällt ihr. Aber irgendwie widert es sie auch an… wie ich bin — zumindest sagt mir das ihr wissendes Lächeln heute.

Sie himmelt ihn an. Er wird ein Lebemann. Er widert mich an.
Ich will nicht, dass ich sie — wegen ihm — jetzt mit diesem Angewidert-Sein in Verbindung bringe. Sie ist doch so schön gewesen. So schön.

So wird sie in Verbindung gebracht mit dem Angewidert-Sein — wie das wissende Lächeln einmal nur Fassade war, als unserer Gefühle füreinander echt waren. So wie das wissende Lächeln einmal Fassade war und heute echt wurde, wurde sie für mich zu ihrer Fassade und die Fassade wurde echt. Und da ist dieses Angewidert-Sein. Sie von mir, ich von dem Typen und ich irgendwie auch von ihr… in ihrem Anhimmeln auch von ihr.


Ein Videospiel. Wir sind in einer Schlucht. Eine Kuh kommt auf uns zu — ein Gegner. Gerade so, dass über ihr nicht der rote Lebenspunkte-Balken erscheint. Wir sollten sie stellen — müssen weiter in die Richtung, in der sie uns den Weg durch die Schlucht versperrt. Sie läuft weg. Weiter in die Richtung, in die wir müssen. Wir folgen ihr. Dann öffnet sich die Schlucht. Wir blicken von oben auf eine idyllische Landschaft und in ihr: eine riesige Herde. Dann schweift der Blick weiter und jetzt sehen wir all das aus der Vogelperspektive. Ein Paradies. Stiere, Kühe — alle zusammen. Die Kuh geht auf sie zu. Sie wird es ihnen erzählen, dass wir auf dem Weg zu ihnen sind. Und dann… dann werden sie angreifen… dann betrachten wir einen Stier genauer, sehen ihn uns näher an. Ein schwarzes, angriffslustiges, mächtiges Tier mit roten Augen und gewaltigen Hörnern. Er ist nur einer von vielen in der Herde. Aber er allein… er ist ein viel schwierigerer Gegner als die Kuh es je gewesen wäre — schwarz und angriffslustig —, er wird uns angreifen. Oder alle zusammen… werden sie angreifen. Uns, die wir noch oben stehen und herabschauen aus der Schlucht auf die idyllische Landschaft.

Mein Jugendfreund und ich… wir brauchen eine Lagebesprechung. Ich will “Esc” drücken. Pause. Vielleicht noch einmal speichern. Aber es funktioniert nicht. Das wollte ich davor auch schon, aber es ging einfach weiter. Auch jetzt geht es einfach weiter.


Ich stehe vor einem Baum und blicke nach oben zu den Palmenblättern. Dort hängen Schlangen — nein… die Palmenblätter des Baumes werden an ihren Enden zu Schlangen. Ich muss durch den Stamm, durch das Innere hochklettern. So wird die Bedrohung zu einer Herausforderung. Geschützt vor ihnen, oben an den Blättern angekommen, könnte ich mich dort an den Blättern hinauswagen und die Schlangen abschneiden. Was? Nein… was ist das für einen Frage? Nein, sie von unten zu bekämpfen — das geht nicht. Ich muss von oben kommen, von innen kommen, sodass sie mich nicht sehen.

Aber… was mir da auffällt… der Stamm einer Palme, an die ich mich jetzt erinnere, entstand indem Blätter verholzen… Oh… das ist sicher nur ein Zufall — aber ich wusste es ja. Aber … könnte man die Schlangen zum Verholzen bringen? Oder soll mir das sagen, dass ich durch einen bösen Stamm muss, um sie abschneiden zu können?


Ein Angriff aus dem Weltall. Wir setzen ein, als wir uns auf etwas befinden, das aussieht wie der Eingang zu einem großen, unterirdischen Tempel. Die Ruine steht in einer Wüstenlandschaft, aber um dorthin zu kommen muss man entlang eines Weges, der erst innerhalb eines feuchten Waldes unter einer steinernen Brücke hindurchführen würde, gehen; weiter ginge es in gemäßigtem Klima entlang des Weges, wobei die Ruine bereits hinter dem Wall aus Schutt zur Rechten liegen würde. Geht man diesen Weg zum ersten Mal, weiß man das allerdings noch nicht. Beim nächsten Mal weiß man es zwar, der Wall ist aber dennoch ein unüberwindbares Hindernis. Zunächst ginge man daher immer an der Ruine vorbei, um dann in einem Rechtsbogen von hinten durch ein natürliches, steinernes Tor in die Ausgrabungsstätte zu kommen. (Wäre man geradeaus weitergegangen hätte man in einer leicht vermoosten Höhle einen schwarzen Troll getroffen.) Den gesamten Weg sind wir aber nicht gegangen. Ich kenne ihn nur noch, weil ich ihn vor langer Zeit bereits oft gegangen war; mal fast alleine, andere Male mit passiver Begleitung. Damals war es noch… nur ein Abenteuer gewesen, kein Angriff aus dem Weltall; nur ein Abenteuer um des Abenteuer willens, ohne echte Gefahr. Erst jetzt — Jahre später — geht es weiter und als ich jetzt wieder einsetze bin ich bereits weit hinter dem steinernen Tor, auf der Eingangsfläche des Tempels. Mit ihr. Jetzt ist es nicht mehr nur ein Abenteuer, sondern echt.

Die Eingangsfläche ist so groß, dass man auf rollenden Baumstämmen Steinquader aus dem unterirdischen Tempel heraus transportieren könnte. Wir laufen hinein, um uns vor dem Angriff zu schützen. Unten ist dann auch alles verstaubt, aber recht modern… vielleicht ein Bunker aus dem zweiten Weltkrieg — vielleicht noch moderner… vielleicht der heutige Bunker? Jetzt kommt der intensivste Teil unserer Reise. Wir rennen im Keller immer um eine viereckige Säule herum auf der Suche nach Schutz und Lösungen — vielleicht sogar, um die Welt zu retten — so genau weiß ich das nicht mehr. — Wie kommt es, dass die Erinnerungen an den intensivsten Teil diesmal so schwer fallen? — Verstecken uns hinter der Säule. Rennen in einen Raum, drücken uns an die Wand. Diese Wand ist wieder älter, mehr aus Sandstein, mehr wie man sich einen Tempel vorstellt, nicht so modern. Laufen die wenigen Meter zurück zur viereckigen Säule und wieder um sie herum, pressen uns an sie.

Ich fühle mich lebendig. Wenigstens ist sie an meiner Seite und ich kann sie beschützen. Und wenn wir sterben, dann zu zweit.

Und wenn der Schrecken kommt, dann… … ich glaube, es reift ein Plan… ich glaube, wir werden wieder hochgehen, uns zunächst verstecken — im gemäßigten Klima, an verborgenen Orten — und dann… irgendwann die Angreifer angreifen. Es wird ein großartiges Leben.


Ich fühle mich nicht nicht-aroused. Das ist ein schrecklicher Zustand… nicht-aroused zu sein… das ist ein schrecklicher Zustand. Erschöpft zu sein, das ist in Ordnung; erschöpft hat man irgendwie noch das Echo des Aroused-Seins, aber nicht-aroused… Das ist schrecklich. Dann… dann bin ich dumm. Könnten sie mich so sehen, dann wären sie alle enttäuscht; all diejenigen, die noch an mich glauben. Nicht-aroused… da bin ich down, dann verstehe ich nichts. Aber nein. Hier… hier fühle ich mich lebendig.

Hier… so … Ich fühle mich immer lebendig. Ich fühle mich immer lebendig, wenn etwas passiert; wenn die kategorischen Strukturen ein wenig aufgelöst werden… dann besonders; wenn ich in Geschichten denken darf… dann besonders. Dann… dann darf ich denken und… ich fühle mich lebendig. Dann… dann bin ich großartig — dann verschwimmen die Stunden. Wenn ich mich lebendig fühle, dann kann ich einen Nobelpreis gewinnen, eine großartige Novelle schreiben. Dann kann ich einer sein. Ja, dann kann ich einer sein. Aber halt nur dann… ist das nicht genug? — Oh … Was? …

Ich habe sie gesehen und kann sie bezeugen.
Ich habe sie gesehen und habe gestaunt.
– Fjodor Dostojewski

Was?… Das…ist es vielleicht… ist das vielleicht? Sie?


Du, mein Mädchen, bist das Spiel,
das ich nicht gewinnen will,
weil ich mich am Spielen freu’.

Du, mein Mädchen, bist der Traum,
aus dem ich mir ein Leben bau.

Du, mein Mädchen, bist der Grund,
durch den ich Sinn im Leiden find’.

Du, mein Mädchen, gibst mir Kraft,
für den schmalen Drahtseilakt,
in dem ich sonst vergehen würd’:
zwischen einer sein wie alle,
und alleine gegen alle.

Denn du warst und bist und bleibst es wert,
dass ich uns beschützen werd’;
Denn du warst und bist und bleibst es wert,
dass ich dafür kämpfen werd’.

Für dich geb’ ich Teile an das Knien auf
und du weist mir noch den Weg hinaus.
Hinaus aus diesem Nimmerland —
geb’ dir mein Zepter — nimm den Thron.
Ich will dir dien’ — verwahr’ es gut;
im echten Leben wird’s mein Lohn.

Ich geb es auf…
Herrscher zu sein
über jenes Nimmerland,
will’s nicht mehr sein —
schau was ich fand —
das Schöpfen eines größ’ren Werks,
indem man Wirklichkeit und Traum verband.

Dazu tauch’ ich für dich in die Konformität der Massen —
bleibst meine Verbindung, sie zu verlassen.
Ich fand’ die Wurzel, du bist die Quelle —
und so schreiben wir: uns’re Novelle.