Ein bisschen Perspektive gewinnen

Das wird jetzt wieder mal ein Beitrag über mich, Marco, den BWL-Studenten; keinen mal mehr, mal weniger fiktiven Ich-Erzähler.
Es geht darum, warum ich nach Russland will und mit welcher Erwartungshaltung ich an das Auslandssemester an der MGIMO Universität in Moskau herangehe.

Foto von Artem Sapegin auf Unsplash

Warum Russland?

Von vielen Partneruniversitäten der LMU war Russland die einzige Station, die mich eindeutig reizte. Und trotzdem wusste ich nicht wirklich: Warum eigentlich?

Meine Erfahrungen bisher

Im August 2014 war ich bereits für einen Monat in Russland und das war eine sehr gute Erfahrung. Die Menschen, die ich dort getroffen habe, waren großteils auf eine aufrichtige und nicht übertriebene Weise offen und freundlich. Aber auch davor in meiner Schulzeit, danach im Studium oder während der Arbeit, habe ich immer wieder gute Erfahrungen mit Mitschülern, Arbeitskollegen oder Kommilitonen, die einen russischen Hintergrund hatten, gemacht. Ich mochte ihre Art und hatte das Gefühl, mit ihnen überdurchschnittlich oft ernsthafte und gute Gespräche zu führen.

Perspektivwechsel

Nächster Grund: Nur wenige meiner Kommilitonen werden ein Auslandssemester in Russland machen. Warum reizt es mich deswegen? Zum einen, kann ich mich damit wiedermal als was Besonderes fühlen. Ja, das geb’ ich zu — ist wohl auch ein Grund, aber ich glaube, dem liegt noch etwas anderes zugrunde:
Dass wenige andere dieses Auslandssemester machen, heißt für mich auch, dass es da Umwelteinflüsse zu sammeln gibt, die in den Gedanken, auf die ich sonst in meiner Umgebung treffe, nicht schon voll integriert sind. In diesem Sinn erhält man eine andere Perspektive auf diese Gedanken, mit der man vielleicht etwas sieht, das fehlt. Dazu ist es mal wieder an der Zeit, weil ich ein paar blinde Flecke in meinen aktuellen Perspektiven habe.

Das bedarf ein wenig Erklärung.

“Perspektiven”… hört sich schon wieder so abstrakt an, was ich hier meine, sind aber oft alltägliche Dinge: Sportarten, Teilbereiche meines Studiums, Annahmen, psychologische Glaubenssätze, …
Anders ausgedrückt: Brillen, über die ich entscheide, wie ich mich durch die Welt manövriere, worüber ich mich definiere, was meine Persönlichkeit und die Umsetzung bestimmter Prioritäten ausmacht.

Wenn mich so eine Perspektive langweilt oder enttäuscht, schließe ich mit der aktiven Arbeit an einem besseren Verständnis dieser oftmals recht abrupt ab; bin dann auch erstmal widerstrebend, mich weiter mit ihr auseinanderzusetzen und wechsle zu etwas anderem. Oft, um erst danach zu verstehen, was mir daran eigentlich wirklich fehlte.
Und trotzdem sollte ich zugeben: die Enttäuschung ist zu einem Teil auch Inkonsequenz meinerseits geschuldet. Ich glaube — oft auch ohne tief genug eingestiegen zu sein —, ihre Quintessenz verstanden zu haben; ein Schema F erkannt zu haben, über das (starr) Antworten gegeben werden, worauf das hinausläuft und: bei dem fehlt mir etwas. Damit ist das Kapitel für mich abgeschlossen. Innerlich heißt es dann immer: “Ist schon was Wahres dran, aber […]” Das Wahre daran, versuche ich mir zu erhalten und trotzdem überwiegt erst einmal das Aber.

Rückblickend ist so ein Perspektivwechsel für mich interessant — bis es dazu kommt: anstrengend; für die Menschen in meiner Umgebung ist er oft überraschend — anstrengend wohl auch; vor allem aber: nicht ganz leicht nachzuvollziehen.

Zurück zum Auslandssemester: In Russland will ich auf jeden Fall mal wieder etwas Neues entdecken, das wenige aus meiner Umgebung schon kennen. Auch weil mich einige meiner Perspektiven wieder langweilen/ enttäuschen und weil ich das Gefühl habe, dass sie systematisch blinde Flecke haben, die etwas Wichtiges außen vor lassen. Es ist mal wieder an der Zeit zu sehen, ob mir eine andere Perspektive zeigen kann, was mir da fehlt. … Mir fehlt, aber nicht nur mir, sondern in manchen der Perspektiven auch grundsätzlich fehlt.

Die neue kulturelle Umgebung, neue Sprache, Menschen und Fächer geben mir mal wieder die Möglichkeit, Abstand zu gewinnen und eventuell ein paar blinde Flecke aufzudecken — sogar, wenn das dann vermutlich alles noch komplizierter machen wird. Nun… dann zumindest auch weniger langweilig.

Neue Sprache — neue Denkmuster

Ok, nächster Punkt und wohl mit einer der wichtigsten Gründe: die russische Sprache. Mich fasziniert sowohl die kyrillische Schrift als auch die Andersartigkeit von slawischen Sprachen. Ich weiß, dass ich in Deutschland nicht die Motivation aufbringen würde, intensiv Russisch zu lernen — in Russland schon. Und gerade in Deutschland sprechen immer weniger Menschen Russisch. Da kann es nicht schaden, es zu lernen.

Dazu kommt noch ein eher nerdy Punkt: Was mich fasziniert, ist die Idee, dass Russisch vom gesamten Sprachaufbau und dem kulturellen Kontext, in dem es ursprünglich eingebettet war, grundlegend anders ist. Da heißt es dann erstmal: Umdenken. Und dieses Umdenken wird mir wohl schwer fallen, aber ich will es zumindest einmal versuchen.

Der Ursprung meiner Faszination ist, dass die meisten von uns sowohl in Worten als auch in Bildern denken, — der eine mehr im einen, der andere mehr im anderen.
Für eine slawische Sprache brauche ich für den sprachlichen Teil des Denkens dann ein ganz neues Denkmuster — ein neues Werkzeug beim Denken (*1) bzw. einen anderes Gerüst auf dem ein Gedanke auch beruhen kann (*2). Das ist natürlich nur Theorie, aber da glaube ich, dass ich viel über das Denken, also das Weiterführen und Bilden eines Gedankens (*1) oder Verständnis eines bestehenden (*2), lernen kann… im Endeffekt läuft es wieder darauf hinaus, ein bisschen Perspektive zu erhalten.

[Wieso und seit wann mich das mit dem Denken an sich besonders interessiert, habe ich in dem Beitrag “Bücher, die mein Leben verändert haben.” genauer beschrieben. (Unten nochmal verlinkt)]

Deswegen bin ich auf den russisch Sprachkurs an der MGIMO gespannt. Ich bezweifle, dass ich in den knapp sechs Monaten wirklich Russisch lernen kann, aber ich werde es versuchen.

Vorfreude?

Vielleicht ist das eher schwer nachzuvollziehen, aber — auch wenn sich das bisher euphorisch anhört, gehe ich an das Auslandssemester gar nicht unbedingt voller Vorfreude heran. Spannung: ja, aber Freude ist nicht das bestimmende Gefühl.

Ich glaube, dass es einen Großteil der Zeit, die ich in Russland sein werde, eher schwierig sein wird: Neuer kultureller Kontext, eine Sprache, in der ich bisher nur die Schriftzeichen entziffern und einfache Sätze wie:
“Ich will Brot.” — “Я хочу хлеб”, “Ich mag den Hund.” — “Я люблю собака” und “Auf Wiedersehen” — “До свидания”, sagen kann.
Dazu kommt noch das Teilen der Wohnung mit einer Person; außerdem: das Teilen der Wohnung mit einer Person, die ich bisher noch nicht kenne; und weder Berge, noch Freunde, Familie oder Hunde.

Aber das ist ja genau Sinn der Sache: mein Leben mal ein wenig umkrempeln zu müssen, um auch da mal wieder das selbstgebaute Nest an Routinen und Aktivitäten verlassen zu müssen und auch an dieser Stelle wieder mal etwas Perspektive zu gewinnen; mir zu beweisen, dass ich auch anders leben kann. Anders bekomm’ ich diese Veränderung nicht so ganz (oder nur unfassbar langsam) auf die Reihe.

Deswegen habe ich mir auch nicht vorgenommen in der Zeit ECTS-Punkte für mein Studium zu sammeln, sondern einfach nur Fächer zu hören, die ich interessant finde oder sich an der MGIMO anbieten (russische Philosophie, internationale Beziehungen, der Sprachkurs etc.), wofür ich dann halt ein Semester an den Master in München ranhängen werde.

Sport

Da Sport ein wichtiger Teil meines Lebens ist — das blieb bisher zumindest noch immer so — , will ich auch den ein wenig umkrempeln. In dem Fall heißt das: eine neue Sportart ausprobieren, dafür Handstandzeug und Fitnessstudio zurückschrauben und versuchen, in den paar Monaten in dieser Sportart auf ein Level zu kommen, das für mich akzeptabel ist. Auch, weil ich glaube, dass man in Verbindung mit den neuen Bewegungsabläufen die Sprache noch besser lernt.

Fazit

Insgesamt sehe ich das Auslandssemester als ein etwa sechsmonatiges Experiment und eine Erfahrung, die ich gemacht haben will und von der ich glaube, dass ich froh sein werde, sie gemacht zu haben; mit der ich womöglich neue Perspektiven erhalten — zumindest etwas über mich lerne. Eine Art Bergtour: zwar mit Karte, aber leider wenig Ahnung, wie man die eigentlich liest; mit gutem Ausblick, aber wenn man mal ehrlich ist: meist anstrengend — dafür ein paar neue Erinnerungen für die Sammlung und das Nähkästchen.


In meinen weiteren Blogposts gehe ich jetzt wieder auf mein übliches Geschreibe über und da werden sich dann wohl einige russische Einflüsse nicht vermeiden lassen — sollen sie auch gar nicht.

Und trotzdem weiß ich noch nicht wirklich: Warum eigentlich Russland? Vielleicht bin ich danach schlauer. Wenn: dann werde ich wohl wieder was dazu schreiben.

 

“Bücher, die mein Leben verändert haben.”