Geschichte oder sowas (Part I: Hier)
Foto von Annie Spratt auf Unsplash

 

Ich muss nur auf die Straße gehen und schon mache ich Erfahrungen. Das Leben, das sich mir auf die Nase bindet — einfach so — , und… manchmal da höre ich währenddessen Musik.
♪♪ “[I]ch lief die Schienen lang […]” — “was mir an Zügen gefällt, ist dass man mit ihnen nicht abbiegen kann.” ♪♪ *


Also zurück… Wir waren ja eigentlich bei etwas ganz anderem. Warum grabe ich? Das ist ja erstmal die Frage, oder? Ich war abgeschweift.

Ich mein… schauen wir uns die Situation doch einmal an:

Man sitzt da unten, schaut hoch, denkt sich, “Oh… wie schön…”, und gräbt… Löcher in den Boden. Wie unsinnig, oder?
Aber: Man sitzt dort unten und hat seine Ruhe — vor allem und alle vor einem.
Natürlich kann man trotzdem fehlen und man kann nur schwer Erwartungen erfüllen, aber man muss zumindest—
Einst da gab es unmögliche Erwartungen, die in einen gesetzt wurden, noch bevor es einen gab. 
Natürlich kann man trotzdem fehlen, aber man muss zumindest… weder unmögliche Erwartungen enttäuschen, noch kann man mit seiner Anwesenheit irgendjemanden irritieren.
Letzteres: Erfahrungen eines aufwachsenden Menschen — ohne zu verstehen: warum.
Ersteres: Hing immer wie eine Wolke über einem. Später ein: Ach… darum.

Vielleicht zog man sich deswegen zurück. Damit ist die Frage aber noch nicht beantwortet, was man da unten eigentlich tut und warum. Warum gräbt man unablässig?


Ich sitze also da unten, beobachte und frage mich, ob mir nicht einfach irgendetwas fehlt. Wenn ich das nur hätte, dann würde ich erkennen, dass doch noch etwas dahinter ist. Wer hat es gestohlen? Wo habe ich es verloren? Oder war es einfach nie da? Etwas, das all die Überzeugungen rechtfertigt, Einwände entkräftet.

Dann würde es wenigstens an mir liegen… das wäre einfacher… für alle. Aber: ihr Muster bleibt das gleiche… und es bleibt… so verdammt…vorhersehbar.

Wenn ich dann noch sehe, wie gerade an der Stelle, an der sie nicht ihre Überzeugungen leben, echte Freuden entstehen, dann… stehe ich immer wieder mit großen Augen vor ihnen. … Will bewundern… will verstehen… will mir anhören, wie sie es gemacht haben, aber… es war nur… das bisschen Zufall… es scheint sie nicht zu stören, dass gerade das, was nicht zu ihren Überzeugungen passt, das ist, was ihnen ihr Bisschen brachte.
Wie… wie machen sie das?

Ich fühle mich unterlegen. Sonst… sonst geht es ihr Leben lang in diese eine Richtung, die für sie keine Richtung ist, sondern eine Überzeugung; ohne, dass es sie auch nur zum Nachdenken bringen würde, dass das kleine bisschen Schön, das ihnen Sinn gibt, damit nicht nur nichts zu tun hat; sich sogar noch vor ihnen verstecken muss. Und dann bin ich wiedermal enttäuscht… vielleicht von mir, weil ich immer noch nicht geschafft habe, zu zeigen, was da fehlt, warum wir das kleine bisschen Schön nur noch im Zufall finden.

Ich schüttle den Kopf… Wie machen sie das? Sie können doch nicht immerzu in eine Richtung laufen, die davon so gar nichts schafft? Es sogar noch kaputt macht.

Ich schüttle den Kopf und grabe weiter. Grabe… nach etwas, das etwas mit der Sehnsucht, es zu verstehen, anfangen kann; etwas, das auch Zweifel schätzt, weil sie ehrlich sind; etwas, das sich nicht an den beiden verbrennt, erschreckt und zurückzieht, sondern an ihnen entlangzüngelt und… ja — ich weiß auch nicht… vielleicht um etwas auszubrüten.

Denn es gibt etwas, das Hoffnung gibt: ein Stern — die Sehnsucht — komprimiert — ein alter Mann, der weiß, was mir fehlt. Immer versucht er, es mir zu sagen — mal lauter, mal verklingt er hinten den Geräuschen des Alltags — , aber immer ist er da und er spricht eine andere Sprache. Nun… er ist ja auch ein Stern. Als gefallener Stern liegt auf meinem Boden und zieht sich mit mir zurück. Aber… oh ist er wertvoll… ich muss nur seine Sprache lernen. Doch sie funktioniert so anders. Um sie zu lernen, muss ich vergessen. Ich muss vergessen, ohne zu vergessen, was ich vergaß, um für ihn übersetzen zu können. … Du siehst, E… es ist schwer.

Aber: Wertvoll ist er trotzdem, mein gefallener Stern, denn er trägt die Erinnerung noch in sich, wie es war, dort oben zu sein; zeigt mir etwas, das fehlt. Und es ging nicht anders: Nur indem er fiel, konnte er sich auf die Welt bringen. Er zeigt, was fehlt, und darüber definiert er es… als etwas Neues; als Loch, das anzeigt, dass da etwas sein sollte.

Ein gefallener Stern. Am Boden. Und ich grabe nach etwas, das sich nicht an ihm verbrennt, erschreckt und zurückzieht, sondern voller Neugier züngelt. Denn, wenn man ihn verstehen will, dann könnten sie — das Züngelnde und er — gemeinsam auf so viele Geheimnisse kommen. Man muss nur ein offenes Ohr für ihn, seine Bilder und seine, so andere, Sprache haben und behalten.


Dann schaue ich wieder hoch — mal traurig, mal ungläubig—: dort oben versucht jeder schneller zu sein als der vorherige… alle weiter in ihre Richtung — der eine geht nach links, der andere nach rechts, der eine steigt den Berg hinauf, der andere geht ins Tal hinab; alle schauen beständig, immer verschreckter auf ihre Hände — gehen immer weiter in eine Richtung — keine Zeit für Zweifel — , als hätte man ihnen nie gesagt, dass man die Richtung selbst bestimmen darf — mit ihr sogar hadern soll; dass es zunächst ein paar Schritte in die Richtung geht, dann aber ein paar in eine andere. Ich schließe kurz die Augen… traurig… Warum so eindimensional und träge? Atme schwer.

Und vielleicht sagt ihnen wirklich niemand mehr, dass sie die Richtung selbst bestimmen dürfen, aber — E… du erinnerst dich — genau das waren diejenigen, die sagten, dass sie auf diese Freiheit ganz von alleine gekommen wären, nur um sie jetzt zu vergessen. Weißt du, E, an was es mich erinnert? An eine versinkende Stadt. Ihr Schicksal ist es, sich auf unfestem Grund zu befinden. Mit jedem Jahrzehnt sinken die Häuser um ein paar Meter in den Boden, sodass die Kellerabteile immer weiter entfernt von der Oberfläche liegen, während die Bewohner oben eine neue Schicht bauen.** Bald geraten die Kellerabteile in Vergessenheit und wenn man die wertvollen Stücke nicht mit nach oben nimmt, dann werden sie immer mehr in Vergessenheit geraten. Und so verstauben auch wertvolle Erkenntnisse heute da unten und mit jedem Jahrzehnt verstaubt es mehr und es wird schwieriger, sich durch all die zerfallenden Kellerabteile zu schlagen, um Wissen aus ihnen zu holen. So scheint es mir… und heute… heute bauen die Bewohner oben nur noch — mehr und mehr… mit immer weniger Ahnung: warum. Sie wissen nicht mal mehr, dass sie ganz von alleine beständig vergessen.


Du schüttelst den Kopf, E — ich schaue zu dir.
Schaue hoch zu ihnen — einer verzieht sein Gesicht — schmatzt. Was zur…
Ich schüttle den Kopf — beginne zu graben.

Ich schaue noch einmal hoch. In der Ferne sehe ich versprengt einzelne Schafe aufrecht stehen. Die Mäuler aufgerissen und natürlich halten sie einen langen Stab in der Hand… ohne ihn könnten sie ja nicht aufrecht stehen. Sodass jeder es hören kann, rufen sie: “Weiter. Seht ihr, was wir alles damit vollbracht haben?” Alle sehen sich um: Es stimmt. “Wollt ihr es etwa verlieren? Nein. Deswegen: dies… dies ist das Wort des Seins. Wir haben es gefunden und es ist eindeutig. Wir haben es ausgelegt und sind zum folgenden Schluss gekommen: Es ist eindeutig. Es zeigt uns den Weg und das Ziel und den Grund. Macht weiter.” Sie machen weiter. Und: Es geschieht, wie sie sagten. … Staunen… diese Macht. “Weiter!”

Ein einzelner Regentropfen fällt auf einen heißen Stein und kurz zeigt sich das Sein. Zwei Figuren scheinen darin durch — eine formlos, unbestimmbar, die andere wirkt auf mich vertrauter. Die eine Figur beachtet überhaupt nicht, was vor sich geht, sie dreht und wendet sich nur: ein immer wechselndes Farbenspiel, welches Farbreflexionen irgendwo auftauchen und wieder verschwinden lässt; die andere Figur hingegen wirkt erregt, fast zornig und doch nicht überrascht als sie auf die rufenden Schafe mit den Menschenherden blickt.
Dieses Sein, wie es sich jetzt kurz zeigt, als Ganzes wirkt kälter als ich es mir vorgestellt hatte. Von dem Formlosen schießt mal wieder ein Strahl hervor und an der Stelle, an der er auf den Boden trifft, erscheint diesmal eine Klappe. Ein breiter Weg führt zu ihr. Als wäre es eine lästige, aber notwendige Aufgabe, öffnet das andere Wesen die Klappe. Und dann verpufft das Sein wieder.


 

Link zu Teil V: Hier. (Der letzte Teil der Serie)

 

*Maeckes — “Heimweg.avi
**Das Bild ist aus einem Buch von Walter Moers.