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Zettel

Vorderseite — Bild

Schmetterling und Flamme
*

Rückseite — Worte

«Es gibt einen armseligen Unglauben, der viel Heilkraft zu enthalten scheint. Er meint, daß eine solche Verbindung zufällig sei und sieht nichts anderes darin als ein recht glückliches Zusammentreffen der verschiedenen Kräfte im Spiel des Lebens. Er meint, es sei zufällig, daß die Liebenden einander bekommen, zufällig, daß sie sich lieben; es hätte hundert anderer Mädchen gegeben, mit denen er ebenso glücklich hätte werden, die er ebenso innig hätte lieben können. Er meint, es habe so mancher Dichter gelebt, der ebenso unsterblich geworden wäre wie Homer, wenn dieser ihm nicht jenen herrlichen Stoff vorweggenommen hätte, so mancher Komponist, der eben so unsterblich geworden wäre wie Mozart, wenn sich nur die Gelegenheit geboten hätte. »**

Zettelende

Und wenn man will, nicht nur das Ende des Zettels, sondern auch das Ende dieses Beitrags für dich, lieber Leser. So hat man einige schöne Worte von diesem Sören Kierkegaard (❤) gelesen. 

Man kann sich nun selbst Gedanken zu Ihnen machen. Sie wurden geteilt und dazu gab es noch ein Bild. Das ist doch schon genug für so einen kleinen Blogeintrag. Was will man damit mehr erreichen? 

Wer nun aber weiterliest, wird zumindest noch ein lesenswertes Gedicht erhalten (“Selige Sehnsucht” von Goethe). Der einfachere Weg zu diesem Gedicht ist selbstverständlich Google. Hier gibt es den… nun etwas anstrengenderen Weg… von den oben genannten Worten über dieses Gedicht hin zu dem Bild und einem Zettel.  

Insofern… vielleicht: Auf Wiederlesen, lieber Leser; erfreu’ dich an den schönen Worten SKs. 


Oder eben willkommen auf meinem Weg. Wir beginnen: 

Vorwort: angenehm vage

Idealerweise sollte die folgende Erläuterung (später dann: Rechtfertigung) des dem Leser in digitaler Form vorliegenden Zettels (s.o.) jenen (den Leser) in der Stimmung, die mich geradezu immer in Museen überkommt, antreffen: amüsiert. 

Über was kann ich weder in den jeweiligen Momenten noch beim Versuch das im Nachhinein zu erklären so genau sagen…vielleicht ist es einfach die Gesamtsituation… mindestens: im weiteren Sinne…, über die ich amüsiert bin. 

Ich komme ins Museum, kaum ist die Eintrittskarte geholt, schon bin ich amüsiert. 

So laufe ich durch die hohen Gänge und sehe Kunstwerke: Nachtmahre; geknickte Puppen; ein hässlicher, nackter Mutant mit Vogelkopf, einem großen Schwert und mickrigen Beinen… «der Sieger»; ein Mädchen mit Schlaghosen, Nike Air Max oder Zoom… auf jeden Fall hohen, hohen Sohlen und einer dicken, dicken weißen Jacke, in der das attraktive Mädchen fast verschwindet. 

Viel ist düster, viel ist traurig, viel ist schwer, das meiste verstehe ich nicht… und dazwischen bin ich: amüsiert; hin und wieder beruhige ich mich kurz, dann bin ich wieder amüsiert.

Eine Weile geht das so hin und her, irgendwann hat man sich daran gewöhnt. Dann ist auch schon wieder Zeit zu gehen.

Habe ich viel gesehen? Ja, auf jeden Fall. Irgendetwas verstanden? Nein, ich glaube nicht. 

Also: Die folgende Rechtfertigung sollte den Leser amüsiert antreffen… oder aber… vermutlich ist das, ja höchstwahrscheinlich ist das zu viel verlangt: ruhig, in sich gekehrt, in eigenen Erinnerungen und Gedanken versunken und trotzdem mitfühlend sollte der Text den Leser antreffen. 

Also: Zurück zum Zettel. 


Rechtfertigung des Zettels

Ich dachte mir: wenn ich jetzt einfach schnell ein Foto von dem Ausschnitt knipste und dir schickte, wirst du damit nichts anzufangen wissen. 

Schlimmer, gerade, wenn ich dir all die — natürlich nicht all die… aber zumindest ein paar der — gänzlich überflüssigen Erläuterungen, warum mich gestern an die Worte erinnerte, schreiben würde, würdest du den kleinen Ausschnitt nicht so lesen, wie ich mir das vorstelle. 

Und, wenn ich dir jetzt diesen Ausschnitt zeigen will, denke ich mir natürlich gleich wieder, dass ich mein Leben doch endlich einmal richtig herum leben (und dann eben auch denken) sollte: dass mich doch eigentlich dieser Ausschnitt an gestern erinnern sollte… nicht andersherum. Aber nach kurzem Nachdenken beruhigt mich der Gedanke, dass das ja wesentlich an der Sache nichts ändert und ich kann weitermachen mit der Rechtfertigung des Zettels vor deiner Tür. 

Warum also jetzt dieser Zettel? 

Weil als Zettel mit den Worten darauf, die Worte zumindest eine Chance bekommen würden so gelesen zu werden, wie sie gelesen werden sollten. Im Wesentlichen waren sie doch genau das, was du gestern sagtest und das solltest du erkennen. 

Sicherlich waren die Worte auch als eine Art Gegengewicht gedacht. 

Ich versuch’ es mal so zu sagen: Wenn du fühlst, wie ein nachdenkliches, kleines Männlein in einem Regenmäntlein, das für gewöhnlich still dort auf seiner Bank sitzt, beim Lesen solch einer Passage oder beim Erinnern von Worten, die einen schönen Menschen unverhofft als Gleichgesinnten preisgeben, mit der rechten Hand kurz von Innen in die Brust greift, dann fragt man sich eben: Sollte man nicht vielleicht doch sichergehen, diesen Menschen nicht als Gleichgesinnten — ich will die ganze Zeit Mitstreiter sagen, aber ich meine: Gleichgesinnten — zu verlieren? 

Immerhin teilte ich ja gestern, scherzhaft, wie es sich gehörte, meine durchaus ernsten Bedenken mit dir: Würde es nicht auf ewig eine Träumerei bleiben? Sollten wir es nicht langsam besser wissen? In Wirklichkeit, wenn wir doch nur einmal verstehen würden, gäbe es doch hunderte Typen, mit denen du glücklich werden könntest; hunderte Mädchen, mit denen ich — . 

Nun und deswegen… war so ein Gegengewicht durchaus angebracht. 

Mittlerweile ist das wohl schon klar, aber: die Worte sind aus dem Buch, von dem ich dir bereits bei unserem ersten gemeinsamen Abend erzählt habe — das, das ich gerade noch einmal lese. 


Vermutlich hätte ich mich einfach nur damit anfreunden sollen, dass ich dir nicht alles, was mir gefällt und wovon ich glaube, dass es doch auch dir gefallen würde, zeigen muss. 


Und vielleicht hätte ich es auch getan. Vermutlich hätte ich auch genau das getan. Dem Gegengewicht wäre doch mit meinen restlichen Erzählungen noch am selben Abend genüge getan. 

Ja, vermutlich hätte ich mich damit angefreundet, dass ich dir diese Passage einfach nicht zeigen musste und schon in wenigen Stunden, schlimmstenfalls in ein paar Wochen, wäre es kein Problem mehr gewesen. Fast hätte ich mich damit angefreundet. 

Ich war so knapp davor. 

Aber dann… dann kamen zwei Kleinigkeiten dazwischen und zusammen: Zum einen brauchte ich eine kleine Aufmerksamkeit für dich, ein kleines Dankeschön… und das sollte schon ein bisschen weniger unpersönlich als eine Flasche Wein sein (vollkommen zurecht, wie du schon bald sehen wirst).

Nun war aber solch ein Zettel, mit ein paar Worten darauf kaum als ein Dankeschön aufzufassen. Irgendwas brauchte es da wohl noch zusätzlich. 

Hah! Aber ich hatte Glück. 

Denn zum anderen war dann da gestern einer dieser manchmal kurzen, wunderschönen Momente der geistigen Abwesenheit, die mit einer Anwesenheit woanders einhergehen, dagewesen. 

In diesem Moment war mir dann eben noch vollkommen klar, dass auch noch ein Bild zu dem Zettel gehörte. Und so könnte es doch dann eine kleine Aufmerksamkeit, ein kleines, nettes Geschenk sein, nicht? Ein schönes Bild, auf der Rückseite, ein paar (noch dazu so gut zu gestern passende) Worte — da war sie also: die Idee. 

Aber… so ist das nunmal… mit diesen kurzen Momenten der geistigen Abwesenheit. Wie zu erwarten war, kam noch ein wenig mehr mit zu dem Bild: ein auszugrabendes Warum, um genau zu sein; ein auszugrabendes Warum, das das Schicksal des Zettels besiegelte. 

Warum gehörte dieses Bild zu den Worten und musste Teil des Zettels werden? 

Weil: Diese Worte selbst auf dem Zettel nicht ausdrücken würden, was gestern auf einmal auszudrücken gewesen war. 

Aber hier erklärt sich, warum der Zettel in keinem Fall zu persönlich war. Denn, auch wenn ich jetzt leider noch nicht mal unbedingt sagen kann, dass das Auszudrückende definitiv dir gegenüber auszudrücken war, obwohl doch so viel dafür spricht, war es eben gestern da gewesen. 

Gestern war der — wie für mich üblich — allzu normale, nicht epische Zufall, der im Leben eines Ethikers mit dem Herzen eines Ästhetikers schon Stoff liefert. Und du — höchstpersönlich — hattest den wohl wesentlichen Teil dazu beigetragen und mir den Stoff geliefert. So scheint es mir zumindest. Denn ohne dich hätte ich keinen Stoff gehabt und es ist doch immer wieder schön, sei er auch noch so alltagsabenteuerlich, etwas Stoff zu haben. 

Nein, da kommt kein trojanischer Krieg zu einem Homer, aber zumindest ist das, was da zusammenkommt, mir und meinem Innenleben “eine Wonne, eine heilige Freude”.**

Und vielleicht verstehst du mit all den Gedanken, die ohne dich so nicht gewesen wären und die so ein Zettel dann in sich birgt und zusammenführt — ohne zu sagen, dass ich mir all das nun bei dem Zettel gedacht habe… ja sogar erläuternd, dass ich mit dem Zettel nicht all das explizit sagen will, sondern dir eben doch ‘nur einen Zettel’ vor die Tür legen wollte — vielleicht verstehst du mit all den Gedanken, dass es eben — in Wirklichkeit, ganz entgegen deines befürchteten ersten peinlichen Berührtseins, weil du eben glaubtest, dass es zu persönlich ist, — nur ein kleines Dankeschön und auch gar nicht so überpersönlich ist, wie du denkst. 

In gewisser Weise könnte man gar sagen, dass… in gewisser Weise… ja…, dass du es zu… gewissen Teilen… eigentlich gar ausdrückst. Siehst du: von wegen zu persönlich. 

Also: wie könnte da so ein Zettel zu persönlich sein?

Und angesichts all dessen, was nun alles auszudrücken war, was sich so alles finden lies, ist der Zettel also kaum etwas. Ich war doch einfach nur froh, was sich da alles so finden lies. Und sei es nur ein kleines stolperhaftes Gedichtchen hier, ein kurzes Lied, sei es auch unästhetisch und…. Man ist für jede Kleinigkeit, die sich finden lässt dankbar.

Es war einmal ein Lied, 
das der allerbeste Künstler schrieb.

Das Lied, 
es handelte von Meeresstillen 
und von alten Schiffern; 
von dunklen Augen
und von neuen Ufern.

Es trug den Namen: 
Rose von Sharon. 
Und handelte natürlich auch 
genau davon.

Von einem schönen Namen
und nichts weiter. 
Einem kecken Mädchen, 
einer gold’nen Himmelsleiter.

Einer Blume: “Flos Campi”, 
die fiel und fiel und fiel und fiel.

Das Lied… es handelt davon
wie Wurzeln durch die Lüfte glitten, 
wie eine nach der and’ren Blüte aus der Rose rissen; 
wie die Wurzeln sich voll Wasser saugten
und die Blüten in die Tiefe tauchten.

Wie die kleine, schöne, rote Rose brach, 
und der Rest vom Stängel in die Erde stach.

Davon, 
wie unten dann am Meeresgrunde, 
wächst im Tal der nied’ren Seelen***,
zwischen kalten Steinen und Hyänen, 
eine dieser selbstbewussten Blumen, 
die selbst nicht wussten, 
dass sie nie vergehen.

Davon, 
wie die Blume unter Wassermassen 
Tag für Tag ein wenig wuchs — 
heute dann, von niemand mehr als mir geschätzt, 
als Kleinod in meine Welt gesetzt.

Sie berichtet von der

“Todesstille — fürchterlich! [… — ]
Es reget keine Welle sich” — ****

, die ihr als Nahrung diente, 
die sich letztlich dann in sie verliebte.

Und so findet man ein Liedchen hier — man ist dankbar — , einen Epilog zum Liedchen da — auch er erfreut.  

Ich, der Erzähler, jedoch, der ich keine Erzählerin war, könne das natürlich nicht verstehen. Mir bliebe das (der Meeresgrund) — “natürlich”, so sagt sie — für immer verschlossen, aber das sei weiter kein Problem, dafür habe ich, der Erzähler, ja sie: die Rose von Sharon mit ihren dunklen, bodenlosen Schleiern, die sie Augen nennt. Ich könne mir all das — nun, wo ich mich in sie verliebte — , Symphonie um Symphonie, Seite um Seite von ihr berichten lassen und dann… davon berichten. Wozu war ich denn Erzähler?

Und ich lausche.

Na, und ebenso wie mir klar war, dass es Dank dir eben etwas zu lauschen gab, war eben auch mindestens genauso klar, dass zu dem Dankeschön-Zettel vor deiner Tür noch ein kleines Bildchen musste, obwohl eine Weinflasche dir sicherlich sehr viel angebrachter erschienen wäre und angenehmer gewesen wäre — auch die wäre doch schon überdimensional gewesen… immerhin aber angenehm distanziert — , war mir klar…, dass nun eben dieser Zettel… 

Konnte ich nun denn noch anders? 

Es war einfach klar gewesen, dass dieser Zettel als Dankeschön dorthin musste. 

Genauer: Noch bevor, ich daran dachte, dass ein Bild zu diesem Zettel vor deine Tür gehörte, war es ein bestimmtes Bild, das sich in besagtem Moment der geistigen Abwesenheit bemerkbar machte und wusste, dass es zu diesem Zettel vor deine Tür gehörte; nur gab es da weder den Zettel noch gestern — und bei genauerem Nachdenken, war das Bild damals — vor gestern — auch noch kaum so klar — und doch definitiv schon da. 

Aber dann, gestern, waren Zettel-Bild-Worte förmlich ein Gedanke, den es — wie eine Rose am Meeresgrund — nur noch auszugraben und — keine Angst — umzupflanzen galt. 


Das Bild wiederum habe ich vor einigen Tagen in einer Art poetischen Bilderbuch für Erwachsene gefunden. Ich finde das übrigens schade, dass die meisten Bücher für Erwachsene so wenig Bilder enthalten — gerade Gedichtbände und -sammlungen sollten doch wohl mit Bildern arbeiten. Aber dieses poetische Bilderbuch, das sich als akademischer Staubfänger tarnte, arbeitete eben viel mit Bildern. Deshalb mochte ich es. Ich hielt es aufgrund des deutlichen Anscheins von Esoterik zwar noch etwas auf Abstand, nahm es aber nichtsdestotrotz unauffällig immer wieder zu mir. So trug dieses Auf-Abstand-Halten letztlich wohl eher zur Stärkung unserer Beziehung als zu ihrem Gegenteil bei. 

Trotzdem fand ich besagtes Bild, um das es eigentlich geht, dann nicht als Fotografie, Malerei oder gar Skulptur gedruckt in diesem Buch; ich fand es als Anspielung auf ein ‘gängiges Motiv der persischen Lyrik’ in einem Gedicht in eben jenem sympathischen Staubfänger. Und bezeichnender Weise sah ich da auch erstmal nichts; das einzige, das ich sagen kann, ist, dass ich, wie man eben manchmal den kleinen Mann im Regenmantel greifen fühlt, wenn man sich bei mindestens so unsicheren wie festen Überzeugungen bestärkt fühlt, schon beim ersten Lesen dieser ersten Strophe den Schmetterling in Richtung Flammen flattern fühlte: 

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.*****

Das Lebend’ge will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet. …

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet. 

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.*****


Und nach und nach — gib ihm ein paar Wochen im Kopf — beginnt das Gespürte greifbarer zu werden — ohne natürlich, dass man dazu was gemeint ist zu wissen glauben müsste. 

… Wird immer schöner und schöner. 

Und den Zettel nicht vor die Tür zu legen, daran war jetzt gar nicht mehr zu denken. 


Nun, gab es da aber außer in meinem Kopf noch immer kein Bild, das man zu dem Zettel hinzulegen könnte. Man suchte also kurz… aber halbherzig, wie sollte es dieses Bild denn bitte wirklich geben? 

Sollte ich es also zeichnen? Einen Schmetterling, der in Richtung Waldbrand fliegt… zeichnen? Ich? 

Das wäre natürlich schöner, vor allem aber, wenn ich es schnell zeichnen oder gar malen konnte: ästhetischer, als so ein einfacher Zettel mit einem, wenn auch selbst zusammengestellten, so doch ausgedruckten Bild. 

Nur, war da — abgesehen davon, dass ich nicht zeichnen konnte… ich bin doch kein Maler, kein Zeichner, nicht mal Ästhetiker — ein Problem: 

Es bräuchte eine ganze Leinwand um den Waldbrand, auf den der blaue Schmetterling zuflatterte, groß genug darzustellen. Oder… ja oder es könnte natürlich auch mit der richtigen Perspektive gelingen. Nur hatte ich diese Perspektive nicht. In meiner Perspektive bräuchte es eine ganze Leinwand, um den Schmetterling in Richtung Waldbrand flatternd darzustellen — ach sogar mit der Perspektive bräuchte es die. An der Größe führte kein Weg vorbei; an der Leinwand, vor der man sich klein, mickrig, im Waldbrand verloren und von ihm angezogen zugleich, wie der wunderschöne Schmetterling, fühlte, führte kein Weg vorbei; und der Schmetterling wäre immer links unten im Gemälde — wie man wusste, dass ein Tattoo auf die linke Körperhälfte gehörte, war der Schmetterling ganz klar auf der linken Körperhälfte des Gemäldes angesiedelt — irgendwo zwischen Brust und Überkopfhöhe des Betrachters — ganz klar… nur so konnte jemand, der auch nur irgendetwas von dem Gemälde fühlte, es irgendwo aufhängen. 

So (und nur so) würde das Bild aussehen müssen. 

Konnte man da meine Gewissheit, dieses Bild weder zeichnen noch malen zu können, nicht nachvollziehen? Alles, was ich versuchen konnte, war es zu beschreiben; wo mir doch schon das gewagt erschien. Zeichnen, gar malen, daran war gar nicht zu denken; selbst unser beider Zimmer zusammen wären zu klein für solch eine Leinwand. 

Außerdem bräuchte es eben einen großen Maler um all das in seiner Farbpracht und mit seiner berührenden Qualität und Pracht darzustellen. Für mich könnte das wohl ohnehin kaum ein echtes Bild erreichen — nur eben ein ganz und gar vages Bild im Kopf. Trotzdem würde ich so ein Bild, sähe ich es irgendwo — beispielsweise in einem Museum — natürlich als für mich schön erkennen… und auch ich erfreue mich an solchen Bildern… vielleicht beruhigen sie mich manchmal sogar kurz. 

Zudem würde so ein Bild viele (ich weiß ja: auch dich) sogar mehr berühren als es Worte — gar gedichtete, an dich gerichtete Worte — das jemals könnten. 


Und zuletzt, des Lichts begierig, bist du Schmetterling verbrannt.

Schmetterling flattert auf Waldbrand zu
******

Nun kann ich sagen, dass Worte und Bild nun eben erläutert bzw. gerechtfertigt wurden. Und wir können, einen Schritt zurück machen; wir, liebe Leser, können zu Sören Kierkegaards “nichtssagende[r] Einleitung”** (❤) kommen. 

Der Vollständigkeit halber zunächst der Satz vor den Worten, die auf den Zettel gehörten:  

SEIT DEM Augenblick, da meine Seele zum ersten Male in Bewunderung von Mozarts Musik erstaunte und demütig sich neigte, ist es mir oft eine liebe und erquickende Beschäftigung gewesen, zu überlegen, wie jene fröhliche griechische Betrachtung der Welt, die diese deshalb [Kosmos (κόσμος)] nennt, weil sie sich als ein wohlgeordnetes Ganzes erweist, als eine geschmackvolle durchsichtige Zierde des Geistes, der sie wirkt und durchwirkt, wie jene fröhliche Betrachtung sich in einer höheren Ordnung der Dinge, in der Welt der Ideale, wiederholen lasse, wie hier wiederum eine leitende Weisheit sei, bewundernswert vornehmlich in der Verknüpfung dessen, was zusammengehört, Axels mit Walburg, Homers mit dem trojanischen Krieg, Raphaels mit dem Katholizismus, Mozarts mit Don Juan.**

Und, jetzt, im nächsten Satz, kommen auch schon die Worte, die uns mittlerweile bekannten Worte. Eine Stelle im Buch, die bei einem ersten Lesen fast an mir vorbeigegangen zu sein schien, obwohl sie doch schon das gesamte Buch vorwegnimmt — es sei versichert: ohne es damit auch nur ein Stück weniger lesenswert zu machen —; die Worte, an die mich gestern erinnerte… selbstverständlich als Teil der nichtssagenden Einleitung. Wir, geneigter Leser, lesen sie einfach nochmal:  

Es gibt einen armseligen Unglauben, der viel Heilkraft zu enthalten scheint. Er meint, daß eine solche Verbindung zufällig sei und sieht nichts anderes darin als ein recht glückliches Zusammentreffen der verschiedenen Kräfte im Spiel des Lebens. Er meint, es sei zufällig, daß die Liebenden einander bekommen, zufällig, daß sie sich lieben; es hätte hundert anderer Mädchen gegeben, mit denen er ebenso glücklich hätte werden, die er ebenso innig hätte lieben können. Er meint, es habe so mancher Dichter gelebt, der ebenso unsterblich geworden wäre wie Homer, wenn dieser ihm nicht jenen herrlichen Stoff vorweggenommen hätte, so mancher Komponist, der eben so unsterblich geworden wäre wie Mozart, wenn sich nur die Gelegenheit geboten hätte. […]**

Und ich verspreche nicht zu viel, wenn ich sage: so geht es weiter. 

Ich sollte wohl den Meister weiter sprechen lassen — von den Irrtümern derjenigen, denen nur an ihrer Selbsterhaltung gelegen ist, sein Buch einfach in diesen Artikel tippen und dich, lieber Leser, zum Fortfahren, zum Immerweiterlesen und Nichtaufhören zwingen; sollte nicht von Schmetterlingen und Flammen reden — als ob es Kierkegaards Ausdruck irgendetwas hinzuzufügen gäbe. 


Warum will ich diese Worte nun also unbedingt zeigen? Aus genau dem Grund zeigen, aus dem ich das Buch noch ein zweites Mal lese: Ich finde sie schön und ich weiß doch selbst zu gut, dass der Irrglaube nur zu verlockend ist und jedes Jahr Gefahr läuft uns ein Stückchen näher zu ihm hinabzuziehen; dass zumindest ich da über jede Bestärkung in ebenso unsicheren wie festen Überzeugungen und jedes Berühren, das derlei Bestärkungen, mit sich bringen, sehr dankbar bin und so wollte ich sie dir eben mit auf den Weg geben. 

Und, ja… jetzt, da nun ja alles geklärt ist, meine Intentionen — so gut es mir möglich ist — offengelegt sind, ist es nur angebracht ein Ende, wie eine Ausfahrt zu einem Urlaubsort, einzubauen.  

Ende

Finally, man würde meinen: Jetzt ist es geschafft, aber nein, denn es geht: 


Am Ziel vorbei und darüber hinaus

Schamlos, wie ich bin, lasse ich es nicht nur nicht an dieser Stelle gut sein. Ende nicht, wie ich es sollte nach dem vorherigen Paragraphen oder… hier gäbe es einige angebrachte Arten, diesen Beitrag enden zu lassen… so zum Beispiel auch mit: 

Und so lang du das nicht hast
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.*****

Nein, standhafter Leser. Wir beide, wir machen uns noch auf zu meinem (vielleicht unserem)… nun in jedem Fall zu eben jenem (und vielleicht meinem), in jedem Fall einem doch sehr aussichtslosen Unterfangen, welches, selbst wenn dieser Text endet, nicht abgeschlossen sein wird. 

Nicht nur du, auch ich, wir beiden werden dann vor dem Beitrag stehen und sagen: “Habe ich viel gesehen? Ja, auf jeden Fall. Irgendetwas verstanden? Nein, ich glaube nicht.” 

Und da hilft es nicht gerade, seit Jahren nicht wirklich zu wissen, worin dieses Unterfangen denn eigentlich nun besteht. 

In jedem Fall machen wir uns, erneut — vielleicht einfach nur, um den Schwung der vorherigen Worte noch zu nutzen — auf zu jener unbekannten, wie auch aussichtslosen Aufgabe. 

Die ich, aufgrund all meiner Ichbezogenheit auch noch der uns alle betreffenden Dinge und um dich nicht mehr mit in diese Sache nicht hineinzuziehen, als dies ohnehin schon geschehen ist und irgendwie notwendig ist, ichbezogen formulieren werde. 

Nun also: Was ist dieses Unterfangen? 

Will ich den Ästhetiker hässlich zaubern? Ist es nun denn schon so weit mit mir? Nur weil ich mich ihm doch immer unterlegen fühlen werde; nur weil ich — je mehr ich mich ihm auch annähre, je besser ich ihn (in mir) kennenlerne, gar sein Spiel spiele, ja mehr noch: Erfahrung um Erfahrung sammle, ohne, dass sie mich auch nur ein Stückchen verändern würde; je mehr ich er werde!, ohne dies zu tun, ohne dass all das auch nur irgendeine Bedeutung für mich gehabt hätte—nur weil ich also ihn oder sie, ja: dich, doch immer um die Selbstverständlichkeit und das keine Erklärung Bedürfende beneiden werde; um seine Hilflosigkeit, wenn man ihn um Erklärungen bittet, beneide; nur, weil die Erfahrung jedes anderen Menschen so hundertmal echter, unersetzlich zu sein scheint; nur weil jede nennenswerte Erfahrung, die ich sammle, nichts in mir berührt und nur die absoluten Kleinigkeiten, das Kaumerwähenswerte, die sporadische, sich durch nichts ankündigende, ebenso verwirrende wie verwirrte Zeit mit dir, für deren Berühren, ja für deren Mich-Berühren, in seiner Unangebrachtheit und Nichtnachvollziehbarkeit ich mich doch eigentlich sogar schämen sollte, weil sie mir die erbarmungslose Willkür meiner Gefühle noch vor Augen hält, mir den Stoff gibt, den die anderen Menschen in ihren echten Erfahrungen finden; … nur diese absoluten Kleinigkeiten, nur dieses Kaumerwähnenswerte macht irgendetwas mit mir. Natürlich scheint mein Berührtsein für sie (die anderen Menschen) — und nicht nur für sie — dann eben gänzlich übertrieben; aber was soll ich denn dagegen tun?; und nur deswegen soll ich nun also versuchen, den Ästhetiker hässlich zu zaubern? …

Weil bei ihnen — nehmen wir irgendeinen Menschen… und nun fällt die Wahl auf dich, Dame mit dem Zettel vor der Tür — die Erfahrung doch jetzt ihren Platz eingenommen hat… und sie jetzt da als schmerzhafte Grausamkeit unverrückbar und eingebrannt steht… weil sie reift, wie ein guter Wein… besser und besser wird; nur, weil ich im Vergleich mit ihr dann eben dort oben — da auf dem Tische — stehe und für mich, der ich es doch nicht wahrhaben will, Ästhetiker zu werden, es dann deshalb nun eben in den kommenden zehn, zwanzig, fünfzig Jahren mit diesem einen gänzlich zufällig gefundenen Menschen darum geht: wer wird siegen — ich, indem ich die eingebrannte Erfahrung hinauf- oder sie, indem sie mich hinabzieht?; nur, weil ich spüre, wie aussichtslos es ist, und die einzige Chance in einer Strategie besteht, die mir eigentlich widerspricht: den sorgsamen, guten Esstisch, auf dem ich stehe, zerbrechen zu lassen und dann, den bitteren Mitstreiter der Gegenpartei, die Schwerkraft, außer Gefecht gesetzt, zu siegen? 

Und, nein, es hilft nichts, dass meine Erfahrungen teils verschrumpeln und hässlicher werden; es hilft nichts, dass manch andere Erfahrungen mich neue erst wertschätzen lassen… nein, das hilft alles nichts gegen meine Gewissheit und Angst, dass der der Ästhetiker mir doch etwas voraus hat; gegen meine Überzeugung, dass ihm dabei eben dennoch etwas entgeht. 


Oder: Will ich den Ethiker (wieder) aufwerten?, wo er doch ohnehin schon etwas Festes in der Hand hat, wo er doch immer die Vernunft auf seiner Seite hatte, wo ihm doch ohnehin nur die Attraktivität und nichts sonst jemals fehlte? 

Wo doch was da genau bedroht ist, sobald die Liebesnacht im Vergleich zu den 17 vorherigen steht, der Sternenhimmel dieser Nacht mit dem der Wüste wetteifern muss, gar nicht so leicht zu sagen ist? Heute ruft einem die Welt laut zu: Wir wissen es doch!, nichts ist bedroht — wir haben nur einen leeren Götzen aus dem Haus gejagt, sind endlich frei. Und um den Götzen zu beschreiben fehlen uns noch nicht einmal die Begrifflichkeiten. Sogar ich konnte — scheiterte ich auch kläglich — es bereits an unserem ersten Abend versuchen:

“Ich mein’: warum? Woher kommt es, dass wir immer neue Erfahrungen suchen? Die nächste Reise, das nächste Abenteuer, die nächste Droge und Grenzerfahrung und wo wäre vielleicht der Wert, das nicht zu tun, es nicht gesehen zu haben, nicht die nächste Erfahrung zu machen, sondern dort zu bleiben, wo man ist — oder öfter ‘nein’ oder ‘noch nicht’ zu sagen? Und ich will gar nicht darauf hinaus, ob das wirklich von uns selbst kommt, dieses ganze Wollen, oder was es mit uns macht, dass es doch erwartet wird, dass es doch ganz eindeutig falsch ist, etwas noch nicht getan zu haben, wenn man es doch könnte — darum geht es mir wirklich nicht. Es geht mir darum, was der positive Wert desjenigen ist, der noch keinen Sternenhimmel in der Wüste gesehen hat, nicht auf vier große Lieben zurückblickt, dem die Wunder der Welt zu entdecken noch offen stehen… und glücklich… vielleicht glücklicher? sterben wird, auch ohne sie alle gesehen zu haben.” 

Und doch zerrinnt, wie üblich, jedes Wort im Munde, je weniger vage ich es auszudrücken versuche. So versuche ich es wieder und wieder und wieder… und natürlich finden sich Argumente, finden sich Anekdoten, aber nichts, dass mir meine Überzeugung erklären würde; und am Ende bleibt auch meinerseits nur der Vorwurf: Ja, nur weil du nicht in der Lage bist, derlei Erfahrungen wertzuschätzen? 

Ich weiß es doch auch. 

Will ich nur aus diesen Gründen also den Ethiker (wieder) aufwerten? Nur weil mir der andere Weg verschlossen bleibt und weil Attraktivität und Vernunft nun endlich einen Pakt geschlossen haben, sich so zu nie gekannten Höhen wehen lassen können? 

Ja, vermutlich will ich das — als aus einer Unsicherheit geborenes Gegengewicht sozusagen. 

Aber jetzt komme ich in Erklärungsnot: Wie kann ich, der ich Ethiker bin — theoretisch durch und durch — , diesen Zettel nun wirklich dir, die du doch auch Ethikerin bist — jedoch mit einem Sinn für das Ästhetische und somit, das unterstelle ich dir, sehr viel mehr Ästhetiker als ich — , vor die Tür legen?, wissend, dass er doch nur für entweder unästhetisch, überdimensional und daher unästhetisch oder auch nur überdimensional gehalten werden kann; dir, die du mir ein, zwei Mal begegnet bist — wissend, dass deine Unbekanntheit es doch so viel einfacher macht und dass das doch wesentlich ästhetisch ist? 

Ja, wie kann ich das? 

Die Antwort… ist nicht ganz einfach… aber intuitiv doch recht leicht verständlich: 

Weil ich weiß, dass es dich doch ohnehin nicht im positiven Sinne berühren wird… es ist dir doch viel zu persönlich — also besteht keine Gefahr. Und wäre es das doch nicht, so wäre das solch eine Überraschung, dass ich mich vielleicht selbst dann noch in Sicherheit wiegen kann, immer genügende Distanz gewahrt zu haben — damit hatte ich nun wirklich nicht rechnen können — ; und nicht nur das, es ist auch so unwahrscheinlich — es kann kein Zufall sein — , dass es — so scheint es mir zumindest — trotzdem gut wäre, wenn ich mich dann doch irren würde. 


Marco (Überall, wo Menschen tapsen und graue Anekdoten sich mit Käferschmetterlingen paaren… mindestens ?‍♂️.)


Link zum zweiten Teil der Serie.

Sternchenliste

*Danke an Cullan Smith für die Flammen; und Michal Mrozek für den Schmetterling — Ich hab das dann nur noch zusammengebracht und bisschen ausgegraut. 

**Selbstverständlich aus Kierkegaards “Entweder — Oder” ❤ 

***Ausdruck “Tal der nied’ren Seelen” (… sehr schön, oder?) aus der Historie der Wiedergebohrnen von Johann Heinrich Reitz, auf die man (sehr vermutlich: unter anderem) in dem Wikipedia Eintrag zur Rose von Sharon stoßen kann.

****Kurzer Ausschnitt aus Goethes Gedicht “Meeresstille”

*****Goethes Gedicht “Selige Sehnsucht”

******Ein ganz ganz fettes Dankeschön an Matt Howard, der mir nun schon seit geraumer Zeit meinen Desktop Hintergrund stellt. Und der Schmetterling ist wieder von Michal Mrozek. Außerdem, (weil’s so schön ist) das Bild von Matt Howards in Farbe: 

Waldbrand - Matt Howards
Von Matt Howard auf Unsplash. 

Dann noch eine Notiz für mich, damit ich den Namen des Künstlers wiederfinde, wenn ich mal an den Mutanten aus dem Vorwort denke: Das angedeutete Bild heißt “Der Sieger” von Heliy Korzhev (Гелий Коржев).