durch Gitterstäbe beleuchtete schwarze Fingernägel und Oberschenkel einer schattigen Frau (in etwa)
Foto von Maithilee Shetty auf Unsplash

Link zum ersten Teil der Serie.

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Liebe Sharon, 

ich möchte mich bei dir dafür entschuldigen, dass ich dir oft nicht in die Augen sehe. 

Aber… … ich muss anders anfangen. 

Dieser Brief sollte eigentlich am Ende, an vorletzter Stelle, als grandioser Abschluss, d.h. vor dem Brief, stehen. Nur habe ich diese Gelegenheit verpasst. Und sollte ich mich auch allgemein und gerade dir gegenüber darin üben, mich kurz zu halten, so sollte dieser Brief doch viel länger sein — der Versuch all das, wie es wirklich geschieht, zu beschreiben — , nur bin ich dafür mittlerweile wohl zu alt — darüber sind wir doch hinweg. 

Nein, wir sind darüber hinweg, wir fangen trübe breit an, spitzen es dann aber doch immerhin noch grell zu. So laufen wir nie Gefahr etwas auszusprechen, das sich sowieso nicht aussprechen lässt — wir tanzen unseren Weg um ein Gebiet, das wir so am besten zu beschreiben meinen, dessen Zutritt uns verwehrt. 

Lass es mich so sagen: In der (, unserer) zu beschreibenden Welt laufen nur Neonjackenträger und graumattschwarze Gestalten herum, beide Seiten fühlen sich einander weit überlegen; so weit überlegen, dass man nicht mehr von Neugier sprechen kann, wenn — nachts… teils mehrere Male — die einen auf die andere Seite, die anderen auf die eine Seite überlaufen; kein Farbloser ist mehr überrascht, wenn er morgens in die großen Augen eines Neonjackenträgers blickt, keine Plusterjacke mehr, wenn sie in die unterlaufenen eines Farblosen blickt; nicht selten wacht man nebeneinander auf. Irgendetwas zieht die beiden Seiten an. Aber auch manch ein Neonjackenträger fragt seine Plusterjacke, manch Plusterjacke ihren Neonjackenträger: “Wer warst du heute Nacht?”

Doch derlei Dinge braucht man nicht auszusprechen, das verwirrt die Bevölkerung nur… ‘so ist das Leben… eben’ und ein unbeteiligter Beobachter dieses bizarren Spiels mutmaßt überflüssig: “Ob sie wohl alle nur kläglich scheitern irgendetwas dazwischen auszudrücken?” 

Wir hören von dem unbeteiligten Beobachter und seiner Frage: “Ach, Jungchen…”, denken wir, schauen uns tief in die Augen. Wir sind froh, nicht mehr zwischen Neonjackträgern und graumattschwarzen Gestalten hin und her zu wandeln. Nein, darüber sind wir hinweg, wir kümmern uns nicht mehr um das Dazwischen — wir tanzen weiter… wir tanzen weiter um Dinge herum, um Fragen zu beantworten. 

Also, genug der nichtssagenden Verwirrungstaktiken, lass mich zunächst trübe breit anfangen, um es dann grell zuzuspitzen und uns zurück zum eigentlichen Inhalt des Briefes kommen… beziehungsweise… eben nicht… aber ja…lass uns zurück zum eigentlichen Inhalt des Briefes kommen: 

Ich kann mich allgemein nicht gut konzentrieren, weil meine Gedanken immer abwandern, in letzter Zeit gern’ zu dir, aber das hat natürlich nichts zu bedeuten. Noch weniger konzentrieren (d.h. bei einem Thema bleiben) kann ich mich, wenn ich neue, interessante Menschen kennenlerne. So bist du eben in gewisser Weise wohl einfach ein neuer, interessanter Mensch, den es zu beeindrucken (und zu verwirren?) gilt — wie ein Strauß Blumen, der unweigerlich verwelkt. 

Wenn ich manch einem von ihnen (den neuen, interessanten Menschen) dann auch noch in die Augen sehe, zerfließt mir jeder Gedanke noch bevor er Gestalt annehmen kann schon im Kopf. Ich ahne, dass das gerade immer dann so ist, wenn meinem unbewussten Ich — jenes ist es, glaube ich, das beeindrucken und verwirren will — … wenn also meinem unbewussten Ich besonders daran gelegen ist, mich gut zu präsentieren. 

Aber es gibt Mittel und Wege sich zu behelfen: man blickt betreten zur Seite, zum Boden oder in der Gegend herum. Alles nicht Teil eines sonderlich attraktiven Auftretens, mir aber noch immer lieb, immerhin bin ich in dieser Art von Gespräch; ich verbringe Zeit, die ich genieße — jetzt und noch einige Zeit danach. Sogar, wenn ich mich danach meines Gebarens schelte: wenigstens war mal wieder etwas geschehen. 

Aber ich möchte nicht verschweigen, dass man alternativ — und das ist natürlich meist sehr viel attraktiver — auch bereits auswendig Gelerntes, hundert mal Gesprochenes und Unverfängliches abspulen kann. Da lässt es sich dann sogar in die Augen sehen. 

Es wundert einen fast, dass wir (unbewusstes Ich und ich) — sonst funktionierende Chamäleons im sozialen Umgang — uns bei all jenen Menschen, wo es auch nur irgend geht, vehement gegen diese Alternative wehren und entscheiden. So anpassungsfähig wir auch sonst sind, so stur bleiben wir hier. 

Fühlt man sich besonders unsicher (a.k.a. ‘bleibt man sich besonders treu’), zieht man einen Spaziergang dem Barabend vor. 

Immerhin gibt es da viel mehr Möglichkeiten um die Gedanken vor dem Zerrinnen zu bewahren, sich nichtsdestotrotz auszutauschen. Außerdem ist es an Spaziergehorten meist leise und so ist auch die Stille in Gesprächen wenigstens oft … nun … still; setzt man sich dort dann nieder und sieht sich in die Augen, ist es zumindest still. 

Aber auch diese Menschen, die beim in die Augen Blicken, wenn ich den sprechenden Part unserer Unterhaltung einnehme, Gedanken zerfließen lassen, reden ja von Zeit zu Zeit und da kann man ihnen, meist ohne Probleme, nicht selten mit unterschiedlichen Arten des Vergnügens (z.B. herausforderndes, interessiertes, forschendes oder verwirrtes Vergnügen), gut in die Augen sehen. 

Nur… bist nun eben da auch noch du. 

Und so wie mir meine Gedanken (oder was auch immer) im Kopf zerrinnen, wenn ich spreche und bestimmten Menschen in die Augen blicken soll, zerrinnen mir bei dir auch Gedanken oder dergleichen in meinem Kopf, sogar wenn du sprichst und ich dir dabei in die Augen sehe. 

Von dem, was du gesagt hast, habe ich dann natürlich nichts verstanden. Und kann man es mir bei all den Dingen, die da im Kopf zerronnen waren, verübeln? 

Unangenehm ist mir das immer dann, wenn mir bewusst wird, dass ich gerade wiedermal nichts von deinen (mit Sicherheit sehr klaren und wohl strukturierten) Worten verstanden habe oder eben nur bereits Halbzerronnenes von mir gegeben habe, es gar jetzt dann auch bald wieder an mir ist zu sprechen und ich weder Ahnung habe, was ich jetzt sagen soll, noch was du jetzt gesagt hast. 

Und das wird mir leider sehr oft bewusst. Nur vereinzelt gelingt es mir dieses unangenehme Gefühl abzuschütteln und dann kann ich dir in die Augen sehen. 

Das sind schöne Sekunden, nur bin ich danach wieder lange nicht als Gesprächspartner zu gebrauchen und alles, was bisher so gesagt wurde, ist verflogen: Ich wechsle das Thema. 

Hast du schon einmal Menschen beobachtet, die miteinander sprechen, dabei nicht gegenüber sondern nebeneinander stehen und beim Gespräch beide geradeaus blicken, sich nicht in die Augen sehen? Als stünde etwas Unausgesprochenes vor Ihnen in der Luft, das beide während des Gespräches so bestimmt beobachten, wie sie es sich eigentlich ausgesprochen zu haben wünschen; hier warten viele Gedanken, aufgestaute, ungesagte Worte. 

Die beiden teilen etwas mit uns. 

Nur bei uns ist es anders herum, wir tuen als stünde es neben uns — blicken zur Seite, zur Seite, zur Seite — , nur eigentlich ist es zwischen uns. Und wir suchen dann doch auch immer wieder unsere Blicke, um das, was zwischen uns steht, ansehen zu können, aber zumindest mir gelingt es nicht… geblendet wende ich nach wenigen Sekunden wieder meinen Blick zur Seite. Nur ab und an blicke ich, geschützt durch deine dunklen Augen, für wenige Sekunden, einige kurze Momente hinein. Und da wartet keine unangenehme Gedankenleere; vielmehr wartet da eine unaussprechliche, weil zerronnene, Gedankenfülle. Vielleicht ist sie ein Geheimnis, aber keines um das wir beide wissen, noch nicht mal eines, das beide so konkret ahnen; nur kurz war da ein Einblick: Zettel-Bild-Worte — und schon ist er wieder weg. 

Was da war? Ich weiß es nicht, mein Kopf ist jetzt leer. Aber es war schön. 

Also: Ich würde dir sehr gerne mehr in die Augen sehen, nur leider kann ich das nicht; weil ich es trotzdem genieße, wenn ich es tue, möchte ich mich dafür entschuldigen, dass das so ist. 

M. 


Bevor wir nun also zum vorletzten Brief kommen, möchte ich kurz anmerken, warum die beiden Briefe “dein Name gefiel mir sofort.” und “du hast natürlich recht: wir alle sollten und gerade ich sollte mehr Briefe schreiben.” im Weiteren nicht aufgeführt werden. 

Den ersten der beiden Ausgangspunkte, ging der Satz “dein Name gefiel mir sofort.” gar nicht voraus. Diesen Satz gab es nie als gefühlsintensiven Satz, aber es gab das Gefallen des Namens als Gefühl, und daraus entstand schon das kleine Gedicht “Rose von Sharon”, womit der Satz meines Dafürhaltens nach schon eingebracht wurde. Insofern hatte es ihn in gewisser Weise nie gegeben und in anderer Weise war er ja schon ausgedrückt. 

Beim zweiten … nun der zweite Ausgangspunkt… brachte mich schon beim ersten Erkunden in so einige Schwierigkeiten, vor denen ich zunächst zurückscheute, die ich dem Leser nun aber doch nicht vorenthalten werde. Gleichzeitig tun sie nichts zur eigentlichen Sache des Textes; sind viel zu unromantisch, um näher auf sie einzugehen. Darüber hinaus gab es ja bereits einen Brief über Briefe, der von diesem Ausgangspunkt auch ein wenig Inhalt (den gefühligen) mitaufnehmen durfte, und so werde ich mich auf eine fragmenthafte Zusammenfassung der weiteren Inhalte dieses ersten Satzes beschränken — sozusagen als Rache für die Schwierigkeiten und das unromantisch Richtige seines Standpunktes. Ich weiß, dass ich ihm damit Unrecht tue, da er ja seine gefühligen Seiten bereits an den anderen Text abgetreten hatte und man ihm damit wohl kaum zum Vorwurf machen konnte, dass er nun so steril geworden war. Nun waren die romantischen Teile aber eben weg und ich tat nur den unromantischen das Fragmentieren und den Versuch analytischen Zusammenfassens an, was ihnen ja nur recht sein konnte, nicht? 

Rest des zweiten Ausgangspunktes

  1. Sollten wir mehr so leben, wie man Briefe schreiben sollte? Wenn ich das denken würde, steckte das mit Sicherheit auch schon impliziert in dem Text über das Briefeschreiben und ich müsste es nicht noch einmal explizit ausdrücken. 
  2. Durfte ich meine (auf dem Computer getippten) Texte als Briefe tarnen? Meine erste Antwort war: tendenziell nein; später unterstellte ich mir dann zwar, dass mein Sinneswandel sich primär aus Bequemlichkeit speiste, aber ich wollte schon auch wirklich keine Briefe mit Stift und Papier schreiben, von denen von Anfang an klar war, dass sie mir nur als Gedankenspiel dienen würden. Beides erschien mir falsch und nichts zu tun würde, so glaube ich, den (zumindest für mich) schönen Stoff verloren gehen lassen. Damit ist dem Leser nun auch gebeichtet, was er wohl nicht umhin kam zu bemerken: dass hier kein grazil anmutendes, schönes Werk vorliegt, sondern nur mein unverhältnismäßiger Überfluss, der sich, wie gesagt, aus absoluten Kleinigkeiten speist und halt in irgendetwas abfließen muss. Sonst (u.a.) denke ich, zerbricht ein weiteres Gefäß mit bunter Farbe und selbst wenn es nur imaginäre bunte Farbe sein sollte, will ich das nicht. 
  3. Was war nun aber dran am Briefeschreiben, am Ausgangspunkt? Was war die Botschaft, die ich zu begreifen hatte? Briefe sollte ich tatsächlich mehr schreiben — sowohl aus Schulungszwecken als auch für das eine oder andere Band. Und so stellte ich konsequenter als man bei dem ganzen Hin und Her vermuten würde erste Weichen in diese Richtung. 

Link zum vierten Teil der Serie.

Marco (Hier mehr)