Dion und sein Freund

Vorbereitung
Im Bewusstsein eines Hundes hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht, aber jetzt, wo er wieder als Stern auf dem Strahl saß, drehte Dion sich um und versuchte dessen Ende zu erkennen.
Wo war er, der Anfang der Zeit? Irgendwo musste er ja liegen, denn gäbe es ihn nicht, läge also eine Unendlichkeit zwischen ihm und dem Anfang der Zeit, hätte er heute nie erreicht.
Eine Unendlichkeit kann nicht verstreichen.
Es musste ihn also geben, den Anfang der Zeit. Angestrengt starrte er in seine Richtung.
Aber er sah ihn nicht und Dion wusste auch nicht, was er daraus jetzt machen sollte — das war auch einer der Gründe, weshalb sich Dion in seinem letzten Leben wieder in die Form eines Hundes begeben hatte. Hier konnte er jagen, fressen, rasten, sich ganz seinen Trieben hingeben und sich dabei keine Gedanken um die Zukunft oder eben die Vergangenheit — sei sie auch noch so fern — machen.
Es war sein Freund gewesen, der ihn auf diese Gedanken (dass es einen Anfang der Zeit hatte geben müssen, da eine Unendlichkeit ja nicht verstreichen konnte) aufmerksam gemacht hatte.
Natürlich nicht, ohne im nächsten Moment zu fragen: Was war davor? Leere? Reine Leere? Zeitlosigkeit? Völlige Non-Existenz?

Und dann? Wer war dann auf den Zeitstrahl getreten, hatte den entscheidenden Schritt gemacht? Wie sollte aus dem Nichts die Zeit angefangen haben zu existieren? Welche Ursache hatte noch vor dem Anfang der Zeit zu dieser Wirkung geführt? Und welchen Sinn ergab es dann überhaupt von einem ‘Vorher — vor dem Anfang der Zeit’ zu sprechen, setzte das nicht bereits die Zeit voraus?
Nein, aus Nichts hatte nicht Etwas, schon gar nicht der Anfang der Zeit entstehen können.
Es hatte also auch keinen Anfang der Zeit geben können.
Weder Anfang noch Nicht-Anfang der Zeit waren möglich — ‘Hah…?’.
Aber auch sein Freund hatte diesen Gedanken nur irgendwo aufgeschnappt.
In gewisser Weise war sein Freund, der manchmal zur Vergeistigung neigende Schöngeist, Dions Gegenpol und beide waren sie nicht der Typ, den so eine Antinomie — dass es weder einen noch keinen Anfang der Zeit geben konnte — zum Verzweifeln brachte.
In seines Freundes sonst so vernünftigen Augen funkelte dann zusätzlich aber immer noch ein “Hah!”.
Denn damit, diese Antinomie aufzulösen, mussten andere Vorlieb nehmen.
Seinem Freund hingegen gaben sie Kraft, weiter nicht-beobachtbare, nicht-beschreibende, aber ganz und gar sinnige Vermutung anzustellen, die ihm und vielen anderen ein wenig Luft zum Atmen durch die antinomischen Lücken brachten. Ein paar innere Veränderungen erlaubten. Und so gab sich sein Freund auch bezüglich jener Frage zum Anfang der Zeit mit einer Vermutung zufrieden: dass es wohl einfach Ananke gewesen war, die diesen ersten Schritt aus der Zeitlosigkeit in die Zeit gegangen war.
Worum es eigentlich geht
Ananke (andere nannten sie Notwendigkeit oder Schicksal), das war die Dame, die entschied, ob sich ein Lebewesen seiner Form im letzten Leben als würdig erwiesen hatte oder eben nicht. Wenn dem nicht so war, erwachte es in einer geringeren Form, um sich dann meist wieder in Demut, in Geduld, in Genügsamkeit… im Besitzen also, nicht im Erobern zu üben.
Die meisten solcher Lebewesen ahnten dann noch nicht einmal etwas von ihren früheren Leben. Anders war es bei denjenigen, die sich in besonderer Weise verdient gemacht hatten, denen sie wohl gesonnen war, den besonders edlen Seelen. Solche wurden von Ananke womöglich in den Reigen der Sterne aufgenommen.
Sterne wussten um ihre früheren Leben, sie konnten sich erinnern: ‘als ich eine Pflanze war’, ‘als ich Pythagoras war’, ‘als ich des Altschulmeisters Hund war’ — aber auch sie waren nicht vor Anankes Urteil gefeit. Auch ein Stern konnte vom Himmel fallen.
Und obwohl Dions Qualitäten nicht in Demut, in Geduld oder in der Genügsamkeit lagen — dafür war er mit Sicherheit nicht der richtige Lehrmeister — , sondern mehr in den augenblicklichen Freuden des Lebens, in den Geheimnissen, den Lufschlössern und Verborgenheiten… in der Jagd; auch, wenn er wusste, dass er gar in manchen Leben zur Landstreicherei, in anderen zur Koketterie geneigt hatte, war er trotzdem nicht von ungefähr vor vielen, vielen Jahren zum ersten Mal in den Reigen der Sterne aufgenommen worden.
Irgendwann hatte er zum ersten Mal seinen Freund getroffen.
Es hatte lange gedauert bis auch sein Freund den Sinn in Dions Lehren gesehen hatte. Doch es war gewesen wie bei den beiden Waldzellern Plinio und Josef. Irgendetwas zog sie an, vielleicht auch die Gefahr, die vom anderen für die eigene Weltanschauung ausging. Und weil dann doch auch irgendwo eine Gemeinsamkeit war, hatten sie all diese in einem Leben nicht zu vereinenden Unterschiede aneinander zu schätzen gelernt.
Einst, als sie viel diskutierten, wussten sie schon bald ihre Rollen im Gespräch zu spielen, schätzten einander und hatten viel zu lernen und zu lehren — und nachdem sie sich trennten, stürzte sich der beinahe sofort in die Welt, während der andere noch eine Weile beobachtend, ein wenig verträumt um sie herum stand. Und doch trugen beide die Lehren aus ihrem Austausch noch immer in sich und mit jedem Erinnern, mit jedem Verstehen, verdeutlichte sich der Abdruck des anderen im anderen. Leben um Leben.
Irgendwas brachte sie immer zusammen.
So etwas hinterlässt Spuren. So eine Seelenverwandschaft hinterlässt über die Jahrhunderte Spuren, sodass es mittlerweile für Dion, um seines Freundes Seele zu berühren und sie an einige der gemeinsam ausgefochtenen Erkenntnisse zu erinnern, noch nicht einmal mehr Worte brauchte.
So hatte er auch in der kurzen Zeit, die ihnen diesmal gemeinsam gegeben war, sein Bestes gegeben, seinem Freund als gutes Beispiel voranzugehen und ihn nicht in die seinigen Übel, sei es die Lethargie, das Selbstmitleid, das Sich Verlieren in fremden Fragen oder das Überragen in den falschen Wettbewerben, verfallen zu lassen — einmal hatte er ihm womöglich gar das Leben gerettet. Er hatte doch noch Großes zu tun.
Und vielleicht hatte Ananke sein Leben als Hund, obwohl er doch so einigen unsinnigen Ärger verursacht hatte, deswegen dieses Mal wieder gefallen: weil hinter all der Unmittelbarkeit, dem großen Aufplustern und dem Nicht-Kleinkriegenlassen einige profunde Wahrheiten steckten.
Nun… so genau würde auch er das niemals wissen, aber er saß nun wieder hier oben als Stern auf dem Zeitstrahl und nun würde er ein Auge auf seinen kleinen Freund unten in der Menschengestalt haben.
Und auch jetzt blickte er hinab und sah den kleinen, umherirrenden Menschen mitten in seiner Lebensreise.
Und auch dieser blickte hoch, zu ihm, in den Sternenhimmel.
Er vermisste seinen Hund, seinen Freund… gestern war er gestorben.
Aber er erinnerte sich auch an diese schöne, kleine Sage von Ananke, die Dion mit Sicherheit hoch zu den Sternen tragen würde. Und es gab ihm Halt, veränderte etwas.
Er freute sich auf ein antinomisches Wiedersehen.
Marco
P.S.: Die Vorstellung von einer Seelenwanderung ist von den Pythagoreern, die Antinomie von Kant, und das Besitzen vs. Erobern— na, klar — von Kierkegaard entlehnt.