The true state of all things; Menschen mit enger vernetzten Gehirnen; Was soll ich anziehen?; und weitere Themen für Sie

Wenn das ein zweiter Teil ist, dann ist der oben verlinkte Beitrag wohl sein erster Teil.

Heute sitze ich, wie so oft, mit zwei kalten Kaffee und meiner Essensbox im Schließfach in einer Bibliothek für Theologie und Philosophie. Ich freue mich, dass jetzt immer Feuchttücher zur Reinigung meines Laptops auf jedem Stockwerk liegen und hadere mit mir: Das kann so doch nichts werden. 

Im Kopf 17 Gedanken und auch mit ihnen hadere ich. Kaum einer bleibt länger als zwei Sekunden an Ort und Stelle. Im ersten Moment, in dem ich einen von ihnen fassen möchte, ist er auch schon wieder weg. 

Deswegen schreibe ich sie auch nicht auf, sondern die ersten Zeilen des 44 Minuten und 44 Sekunden langen Songs, der so leise durch meine Kopfhörer flüstert, dass ich ihn ohnehin kaum höre: 

The true state of all things:

I keep on not dying, the sun keeps on rising.
I remember my life as if it’s just some
dreams that I don’t trust, burning off, layered thick,
a cargo that I haul, wounds and loves unresolved.

aus ‘Microphones in 2020’ von The Microphones

Es ist Freitagabend, ich liege — wie immer — im Bett, The Microphones hat 272.683 monthly Listener auf Spotify. Das neue Album besteht aus diesem einen 44 Minuten langen Song und läuft jetzt auf den schlechten Lautsprechern meines Laptops. 

Ich frage mich, warum so wenige Menschen diese Musik hören, hadere mit mir und denke: Das kann so doch nicht weitergehen. 

Heute Abend suche ich aber immerhin nach Aktivitäten für morgen — ein wenig stolz bin ich da schon auf mich. Ich suche bei Munichmag, glaube aber, da passe ich nicht rein. Das ist mir zu… grün. In der Hoffnung, so auf Leute zu treffen, die mich verstehen, suche ich nach “Post-Rock in München”. Das ist grauer. 

Wie zu erwarten kommt nichts dabei raus. 

Und wieder belächle ich mich: Das ist die Art von Hintergedanken, die man mit 16, 17, 18 hat, klammheimlich hat, wenn man sich für Musik interessiert, sich damit auseinandersetzt… Klamotten, Musik und aktuelle gesellschaftliche Themen — für sowas brauche ich immer länger, komme dazu erst verspätet, irgendeine Art von intuitivem Zugang, die man halt hat, ‘das ist doch was man halt macht’, fehlt mir da. 

Sowas muss man mir immer erst zehn Mal — aus immer unterschiedlichen Blickwinkeln — erklären und zwischen jedem Mal müssen mindestens ein paar Monate ins Land ziehen, bis ich irgendwann verstehe, warum es mir hätte wichtig sein sollen, was mir da entgangen ist.

Meist fühlt sich dieses Verstehen dann zunächst wie ein Resignieren an, später wie ein hoffnungslos zurückgebliebenes Hinterherlaufen: Ich habe einen Schritt nach vorn gemacht. 

Und dabei irgendwas zurückgelassen. War das wirklich ich?  


Dann erinnere ich mich daran, dass ich ein Solidaritäts-Ticket für das Strom kaufen wollte, überweise 20€: Ich war nur einmal da, aber das Strom hat Mono 2019 nach München geholt. 

Ein wenig lese ich noch einen Beitrag über Phil Elverum, den Mann hinter The Microphones; sehe mir dann aber eigentlich nur sein Bild an. Er trägt etwas, das ich als eine olivgrüne Fleece Cargo Jacke beschreiben würde, und steht vor einem verschneiten Wald. 

Phil Elverum in grün vor verschneitem Hintergrund.
Beitrag — Credit wird dort folgendermaßen gegeben: Geneviève Elverum

Sollte ich so ein Fleece tragen?


Nachmittags, bevor ich wieder in die Bibliothek bin, habe ich ein, zwei Stunden Solowjow gelesen: vor der Kunstakademie, in der Sonne, alleine. 

Abends, im Bett, war das traurig; morgen, im Zug, wird das glücklich gewesen sein. Mich lässt das daran zweifeln, wie es nun wirklich war. 

Solowjows Buch ist in fünf Aufsätze gegliedert. Diese Aufsätze wieder in etwa sieben Abschnitte (I, II, III, …, VII). 

Ich versuche mindestens nach jedem Abschnitt, das Buch zur Seite zu legen und mich zu fragen: Was wollte er mir gerade sagen? Das sollte man bei Solowjow so machen, ich denke er will etwas sagen. 

Ob ich etwas sagen will? 


Am nächsten Morgen unter der Dusche erinnere ich mich daran, dass er Herakles zitiert: Dionysos und Hades sind ein und derselbe. Ich glaube, ich verstehe in Ansätzen was Herakles meint — in Solowjows Sinne sowas wie: Wie zwei wahrhaft Liebende sind sie eine absolute Individualität. 

Trotzdem… unter der Dusche weiß ich: Ich fühle mich Hades näher als Dionysos, denke nicht, dass das zum Obigen im Widerspruch steht; weiß auch, dass es mich zu dionysischen Gestalten hinzieht und als ich mich darauf hinweise, verurteilt eine altbekannte Stimme das Dionysische: Sie lehnt diesen Lebensentwurf, der keiner ist, ab — man könnte auch sagen, um im Dionysischen einen Lebensentwurf auszumachen, fehlt mir eine Art intuitiver Zugang. 

Weiter meint Solowjow, dass der Keim alles Guten in der Welt, wie auch die Empfänglichkeit für die Liebe, im dunklen Gebiet des Unbewussten liegt; dort liegen die “Wurzeln des Lebensbaumes, [aufziehen aber] müssen wir ihn durch eigenes, bewusstes Tun” (S. 30). Auch ich denke, dass der Keim von Allem was wir tuen (nicht nur vom Guten) im dunklen Gebiet der unbewussten Prozesse liegt; ja, ich denke, dass der Keim aller schöpferischen Prozesse im Unbewussten liegt — so hatte ich Solowjow auch in Erinnerung und so ist es für mich auch ziemlich einleuchtend. 


Die Frage, über die nachzudenken, ich mich eigentlich vor einigen Wochen in das Café gesetzt hatte: ob ich etwas ändern sollte, ist zwar noch immer mindestens ein, zwei Schritte weg, aber nicht mehr ganz so fern, wie sie mir damals im Café, ein paar Meter von der Frau im Schottenrock entfernt, schien — als ich gut gelaunt und unter Menschen war. Deswegen mag ich die Tage in der Bibliothek. 

Ich stehe auf und gehe weiter, entferne mich wieder ein Stück von der Ausgangsfrage — sollte ich etwas ändern? — , lese Solowjow.


Ich wurde gefragt was ich mit dem Ende meines letzten Textes meine — “bis ich mit der Wand verschmelze” — und als Antwort hätte ich fast gegeben: 

Eine Brust: weiß — und wenn man ganz genau hinsieht, das Mädchen um sie ist schon vergessen, dann wird sie wunderschön — glatte, weiße, weiche Haut — ; man sieht noch genauer hin — Poren, Härchen, Warzen — , sie wird hässlich… wieder wechselt es: schön. 

aus einem unveröffentlichten Beitrag von mir.

Aber solch eine Antwort gibt man natürlich nicht, das würde nur zu weiterer Verwirrung führen. Bei mir ebenso wie bei ihr. Trotzdem war das, was ich gemeint habe; was ich damit allerdings wieder meine ist eine andere Frage… einer der 17… diesmal weniger neckenden, als vielmehr noch fluoreszierenden Gedanken — ein wenig zu dunkel bereits, um noch wirklich etwas über sie sagen zu können. 


Kurz erinnere ich mich noch an ein Gespräch letztens vor dem Museum Reich der Kristalle… darüber, dass sie…, die Synästhetikerin… die, die Kristalle mag, die versteht, wie frustrierend es ist, wenn man einen Gedanken nicht eine Sekunde halten kann, die mir Geschichten erzählt, die mich berühren, obwohl so wenig, ja kaum etwas Nennenswertes, in ihnen geschieht… dass diese Synästhetikerin am liebsten nichts tragen würde, am liebsten nichts nach außen zeigen würde. Sie verzweifelt fast daran, dass sie nicht nichts zum Ausdruck bringen kann. 

Ich… ich denke wieder an das Fleece. Es gefällt mir nicht, hadere mit dem Text. Diesmal gibt es kein vieldeutiges Ende, hadere mit mir: Ich sollte keine zweiten Teile von etwas schreiben.  

tbc.


Weiter geht es hier – selbst wenn der Titel nicht mehr “Untitled_” ist:

Shownotes

Mein Lieblingsalbum von The Microphones — auf Spotify: 

Und YouTube:

Mit den Zitaten von Solowjow ist noch immer ‘Solowjew, W. (1985). Der Sinn der Liebe (Vol. 373). Felix Meiner Verlag.’ gemeint.