Letztens ging ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite am PICKNWEIGHT — VINTAGE KILO STORE in der Schellingstraße vorbei. In Hörweite auf dem Gehweg flanierte eine Gruppe junger Frauen… Studentinnen, Mitte/ Ende zwanzig. Ihre beiden Freundinnen bemerkten es kaum wie die eine lacht und zu den anderen beiden meint: “Und da drüben ist der neue Abercrombie & Fitch.”. Innerlich kommentierte ich ihren Satz wohlwollend während ich weiter die trotz Regen belebte Straße zum Rupprecht runter gehe. 

Ist schon etwas dran, nicht? 

Auch lobe ich mich, dass ich in letzter Zeit vermehrt ohne das Übertönen der Außenwelt durch meine Kopfhörer in Unigegend herumlaufe und so nun mit dieser gut in mein Weltbild passenden Beobachtung belohnt worden bin. 

Mindestens genauso oft stecken aber natürlich noch Außenweltabschirmer in den Ohren. Sie geben melancholisch klimpernde Musik oder up-to-date-bleibend nicht-nischige Podcasts von sich. 

Und langsam bin ich drin: in… den Themen. Ich kann wieder mitreden, weiß worüber man sich unterhält, was die passenden kleinen, sich anzubringen lohnenden Randnotizen sind. Ich spüre, wie das hilft, wie man wieder anerkannter wird, wie das Teilhabe generiert. 

Und das fühlt sich gut an. Nicht? 

Nun… für viele wohl, ja. Für mich: so naja. 

Mich erinnert es an das gesellige, unterhaltsame Zusammensitzen am Essenstisch mit all den unschönen Gruppendynamiken. Diese Art von Beisammensein löst bei mir etwas aus, das mich ausbrechen wollen macht: raus in eine neblige Welt, in der so schön mythisch Unbekanntes umherfliegt, bei der man dieser unterschwelligen Erwartung entkommt, mir nicht vorzuschreiben versucht, was ich von irgendwas zu halten habe; in der man Geselligkeit für eine unbestimmte Einsamkeit austauscht, Zeit für sich hat, sich sehnt, jemand würde zu einem raus kommen, während man sitzend in die Ferne blickt und weiß, dass das nicht geschehen wird. 


Im Gegensatz zur Flucht in diese anderen Welt erfahre ich beim Auseinandersetzen mit den aktuellen Themen nämlich implizit wie explizit, was cool, gut und richtig ist, wie ich mich zu positionieren habe, um mit meinen Meinungen in der richtigen Gesellschaft zu sein. Das ist unangenehm für mich, aber weder schlimm noch neu. Sowas gibt Orientierung. Und nebenbei erstaunt mich etwas daran: dass all die Dinge ehrlich und aufrichtig und vor allem unmittelbar zu interessieren scheinen. 

Das kann ich kaum glauben. Man braucht nicht zu erklären, dass das zu interessieren hat um mitzuspielen, weil man sich besser fühlt, interessanter wird, wenn man eben mitreden kann. Nein, man ist unmittelbar interessiert. 

Dass der Wirecard-Skandal von vor einigen Wochen wie der BSE-Skandal von vor einigen Jahren bald schon wieder vollkommen aus den Köpfen ist, stört nicht, denn bis dahin sind schon wieder neue Themen, neue Aufreger da. Was die Leute bewegt ändert sich, was wichtig ist ändert sich. 

Und dabei immer positionieren. Heute mit Second Hand Vintage Sachen als modebewusster, aber nichtsdestotrotz guter Mensch. Denn Gebrauchtes kaufen ist gut… oder zumindest besser als Neues. Wissen wir ja jetzt. Haben wir gelernt. 

Und darüber, dass die Schlangen, die damals Abercrombie & Fitch Käufer waren — um damit in der richtigen Gesellschaft zu sein — , heute Einkaufende vor dem KILO STORE sind, sollte ich froh sein — moralischen Fortschritt nennt man das. 

Nun… froh zu sein… das schaffe ich noch nicht ganz, weird ist das schon und… ich find es gut… oder zumindest besser. Und als bloßes Virtue Signaling will ich es auch nicht abtun, denn die Menschen, die sich verhalten, wie es gerade bekanntermaßen richtig ist,  — sei’s Veganer*innen, sei’s als bewusst Konsumierende oder Sprechende — ändern ja wirklich etwas an ihrem Verhalten und wir lernen alle etwas dabei.* Es ist nicht alles umsonst. Wir passen uns an und dabei verändert sich etwas: vielleicht erarbeiten wir uns nach und nach einen neuen, besseren gesamtgesellschaftlichen Default-Mode. 


Besonders deutlich wurde mir das vor wenigen Tagen als sich ein griechisches Mädchen darüber gefreut, dass ich, ein Mann, den Abwasch mache, putze und koche. Verrückt ist das, wenn ich daran denke, dass das für sie nicht selbstverständlich ist oder daran, wie leicht ich das vor wenigen Jahrzehnten noch für nicht selbstverständlich hätte halten können. 

Aber es ist auch alarmierend. Denn, verglichen mit meiner Peergroup — oder was ich dafür halte — , habe ich meist eine eher konservative Haltung.** 

Das beschäftigt mich nun schon länger und letzte Woche hatte ich viel Zeit über meine Skepsis gegenüber modernen, progressiven, vermeintlich endlich das Alte überkommende Positionen nachzudenken. 

Ich denke, dass man bevor man etwas einreißt innehalten sollte. Zunächst fragen, ob man eine Alternative hat, dann versuchen auch die guten Seiten des aktuellen Systems, Wertegerüstes, der einem selbst oder anderen innewohnenden Einstellung zu sehen — wenn man diese nicht sieht, übersieht man vermutlich etwas — und danach sogar die negativen Seiten seiner favorisierten Alternative betrachten — wenn man diese nicht sieht, übersieht man definitiv etwas. Wenn man all das gemacht hat, ist man für mich eher legitimiert “F*ck the system” zu rufen. 

Das ist jetzt wohl unsexy unrevolutionär — um etwas zu verändern, braucht es rigorose Menschen! — … aber ein valider Einwand. Finde ich. 

Trotzdem muss man sich die negativen Seiten des Status-Quo ansehen und auf die Notwendigkeit des Überwindens innerer wie äußerer Widerstände, des Aufbrechens alter Strukturen hinweisen, um das Leben ein wenig erträglicher zu machen. Daher blieb die Frage für mich, ob ich nicht, wenn mich das Leben doch eines Besseren belehrte, ein paar der Dinge aufgeben sollte, die ich für gut, schön und richtig halte. Sollte ich über meine ganzen Überzeugungen nicht mal ein Update drüberlaufen lassen: gut, schön, richtig 14.0.2

Das funktioniert natürlich nicht auf Knopfdruck und besonders beim Schönen ist das schwierig. Aber die letzten Tage, ebenso wie Monate und Jahre haben mir gezeigt, dass dem so ist: ein Update ist gefragt. Da brauchte es nicht nur das Lesen hübscher Argumente, sondern auch ein wenig Emotion, ein paar Streits, ein bisschen Erleben der Wichtigkeit gewisser Themen. Was daraus folgte war ein größerer Konsens mit einer gesamtgesellschaftlich gesehen wohl eher linken Twitter-Bubble .

Nun dann, sag MZ, wie hältst du’s mit dem Feminismus?

… Nicht wie Faust mit der Religion. MZ bezeichnet sich jetzt hin und wieder als Feminist. Trotzdem nervt ihn Konsens.

Besonders dann nochmal Konsens mit Menschen, die sich in Seminaren über Worte wie Schwarzarbeit empören — ‘Wie schrecklich ist es bitte, dass wir Schwarzarbeit sagen? Ja, zeigt das denn nicht alles?!’… Jap, tut es. 

Aber einige Jahre nach den zutiefst überzeugten, rigoros voranschreitende Menschen, die für ihre gute Sachen kämpfen, braucht es dann wohl auch noch “mutig” voranschreitende, leicht zu triggernde Influencer, Leute, die irgendwas mit Medien machen, um das Gesamtpaket des Fortschritts dann zu einem gut-verdaulichen Brei vorzukauen; um die Gesellschaft zu durchschwemmen bis es zumindest 70% gerafft haben.

Ist das jetzt rechts? Ist das ein Superfood?
Wie formulier’ ich nochmal neu, was alle denken, die nicht denken
Aber tu dann so, als bräuchte es groß’ Mut dazu?
Und an welcher Stelle kommt mein Text, wenn man den Begriff bei Google sucht?

Prezident (Ist das ein Superfood?)

Vielleicht ist mein innerliches Abgrenzen von veganen Gutmenschen, woken BLM- und aufgebrachten FFF-Demonstrierenden, warum ich nicht “Fight the power!”-rufend mitlaufen will, so zumindest dem ein oder anderen Leser ein wenig verständlich.

Ja, ich finde auch, dass insbesondere wir in Deutschland (by the way in einer sehr privilegierten Position) versuchen sollten von industrielle Massentierhaltung wegzukommen, Rassismus, wo es ihn wirklich gibt (und es gibt ihn an vielen Stellen auch in Deutschland), zu bekämpfen und etwas gegen die Klimakrise zu tun — denke auch, dass ich bei all dem mithelfen sollte. Ich will dabei aber nicht, dass Gegenstimmen kein Gehör mehr bekommen. Nicht notwendigerweise, weil ich finden würde, dass diese recht haben, sondern 

  • erstens weil ich (sonst) befürchte, dass eine Verengung von Debattenräumen zur Erstarkung der Ränder führt.*
  • Zweitens wegen meiner Tendenz, Gegenargumente hören zu wollen.***

Diese sollte mich aber wohl nicht davon abhalten… “mitzuspielen”, sogar zuzugeben, dass ich ihre Meinung teile, dass viele ‘progressive’ Meinungen, die Teil des Konsensraumes sind, progressiv sind; soll in dem Fall heißen, dass sie Schritte hin zu einer besseren Zivilisation sind. 


Also: Marco hat wieder ein paar Sachen für sich sortiert, bewegt sich auf widerstrebend wackligen Beinen hin zum Twitter-Mainstream, teilt dort Meinungen, hört weiter Prezident und freut sich über jede Line, die ihn und eine Bubble, von der er zwar irgendwie Teil wird, sich aber doch innerlich abgrenzt, disst. Sein Befremden darüber, dass die gleichen Mechanismen, die die jungen Leute damals zu Abercrombie & Fitch geführt haben, diese heute zum PICKNWEIGHT — VINTAGE KILO STORE führen, erträgt er heldenhaft. Weniger heldenhaft sitzt er noch immer lieber allein vor der Hütte als drinnen mit einem netten Grüppchen am Essenstisch. Dort draußen fühlt es sich weird an, wenn er an Menschen denkt. Wie sie von einem um das andere Thema durchschwemmt werden — ist das ein Lebensinhalt, der da umherschwappt? — , und sich empören als stünden sie kurz vor dem Untergang des Abendlandes… oh nein… das ist die andere Seite. Mindestens**** genauso schlimm. 


Marco

Gelbe Zettelchen an Füßen

* Moralische Langeweile — auch ein schöner Begriff in dem Zusammenhang, wie ich finde. Das könnte man anprangern. Ich habe ihn aus diesem sehenswerten Interview (zur Verengung der Debattenräume u.a. ab etwa Minute 35) und glaube, by the way, dass es Prezident in seinem Du hast mich schon verstanden Album auch darum ging. 

Aber Andere denken anderes:

https://www.laut.de/News/Prezident-Pro-und-Contra-Extrameile-23-03-2018-14536

(Mein gut-verdaulicher Brei (Schrödingers Katze), “Fight the power!” (Du hast mich schon verstanden), das letzte mitzuspielen (Rites de Passage) sind teils auch Anspielungen auf Lines aus dem Album.)

** Ich habe in vielen Themen eine konservative Haltung, was die Urteile über das moralisch Richtige angeht; eine liberale, was die Möglichkeiten des rechtlich Erlaubten angeht. 

*** Wegen dieser Tendenz, Gegenargumente hören zu wollen und Debattenräume breit zu halten, habe ich mich übrigens z.B. am Anfang der Coronakrise über jeden ‘freiheitsliebenden’ Artikel gefreut, obwohl ich unseren Kurs durch die Krise bisher insgesamt schon ganz ok finde. Ich weiß, dass Journalisten auch aussortieren müssen, bewerten müssen, was hörenswert ist. Teile da aber nicht die Meinung, dass man versuchen sollte den Konsens unter einem Großteil der Wissenschaftler wiederzugeben oder gar nur die Informationen, die Informationsverarbeitende vermutlich gesamtgesellschaftlich richtig handeln lassen werden, sondern dass man versuchen sollte darauf zu vertrauen, dass ein mündiger Bürger verantwortungsbewusst handeln wird. Gerade langfristig ist das, denke ich, die sehr viel bessere Lösung. 

**** Mindestens genauso schlimm. Wenn man das hier sieht… einfach irre(,)^ dämlich. 

^ ‘irre dämlich’ as well as ‘irre,… dämlich’ und ‘irre und dämlich’. 


Eventuell ist der Beitrag ein vierter Teil, dann ist hier der erste Teil: