Wenige Minuten zuvor war Ilya K. noch an einem kleinen Kind im Kinderwagen vorbeigegangen: weit aufgerissene, blaue Augen, die von einem Ding zum nächsten huschten. Beim raschen Hin und Her der Augen hatte er sich, wie so häufig, gefragt, ob dieser werdende Mensch wohl besonders intelligent, mit besonderen Gaben gesegnet sei. 

Was ihm wohl alles offenstehen würde zu tun? 

Würde das Kind die Möglichkeit haben, Romane zu schreiben, zu lesen, sich in Bücher zu versenken? Würde es studieren?, sein Land verlassen und andere Welten sehen? Würde es ein Denker wie Lew Schestow, “ein Einzelgänger, dessen Unabhängigkeit von den Zeitströmungen seiner Umwelt geradezu erstaunlich schien” (1), werden? 

Was würde die den Kinderwagen schiebende Mutter von ihm erwarten, wozu es drängen, was für es wünschen?, würde es nichtsdestotrotz seinen eigenen Weg gehen? 

Für Ilya war es einer dieser Momente, bei denen man verstand, dass da ein neues Leben an einem vorbeifuhr, mit all den bevorstehenden Entscheidungen, mit großen, staunenden Augen, als würde diese Winzigkeit ihre unvorstellbaren Möglichkeiten ahnen. 

Während dieser, sich nur in einem Gefühl ausdrückenden Halb-Gedanken war er weiter hinunter gegangen zum Hafen, zum Strand. Ein wenig die Straße runter waren dann ein paar Leben dieses Kindes an ihm vorbeigezogen: eine verkommene, unter der Last der Welt schwankende Künstlerin, ein ihr zu entkommen suchender Steppenwolf, ein weiter an sich zweifelnder Literaturnobelpreisträger, eine glücklich Liebende sah Ilya vor sich, während er durch enge Gassen auf eine Filiale von frozen yogurt zuging. 

Links, auf der anderen Straßenseite, befand sie sich, die Filiale. 

Fünfzehn…, vierzehn…, dreizehn Schritte von ihm entfernt. Vor ihr saß eine braunhaarige Verkäuferin, keine 24 Jahre alt, hübsch — vermutlich war das ein Grund gewesen, warum sie diesen Job bekommen hatte —,  auf einem von vielen hohen, weißen, glänzenden Plastikhockern. Sie blickte unaufgeregt auf ihr Handy und wartete vor dem leeren Café auf Kunden. Im Hintergrund der Leuchtturm, das reichlich unspektakuläre Wahrzeichen der Stadt. 

Während Ilya vorbeiging, sah sie nicht einmal auf. Wozu auch? Es war vier Uhr nachmittags, keine Touristen in der Stadt, es war weder kalt noch warm, weder ungemütlich noch gemütlich auf ihrem Hocker, ein Mittwoch, wie jeder diesen Herbst. Es war nicht viel los in Alexandroupolis. Es gab nicht viel zu tun, nicht viel zu sehen, lief so vor sich hin.  


Marco

(1) Aus dem Vorwort (geschrieben von Nikolaj Berdjajew) von Spekulation und Offenbarung — Essays und kritische Betrachtungen von Lew Schestow, übersetzt von Hans Ruoff (1963).