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Ein Auszug

Ich sehe kleine, rote Smilies in mir tanzen. 
Ihre Grinsebacken sind nichts anderes als Widerhaken. 
Sie lachen und sie tanzen
und sie beißen mir in meine Flanken. 

Ich sehe kleine, rote Smilies in mir tanzen. 
Ihre Grinsebacken sind nichts anderes als Widerhaken. 
Sie lachen und sie tanzen
und sie beißen mir in meine Flanken.

Im Hintergrund spielt ein Piano… dissonante Melodien, mitten im Inferno, und ein Unbeteiligter fragt, wie der verdammte Collegestudent, der er ist: 

“Hi, man! What are you up to?”, 
“Hi, man! What are you up to?” . 

Er hat das Gesicht, die Frisur, das Wesen eines Pick-Up Artists, der langsam aber sicher zu einem semi-amateurhaften Pornodarsteller heranreift. Mit seinem beschissenen Cap spricht er jeden und jede an, was auch immer sich in den Räumen tummelt und halbwegs fickbar aussieht. Ich glaube, seine Strategie ist, die Namen der Menschen in seiner Umgebung zu kennen, um sie nebenher im Treppenhaus beim Vorbeigehen grüßen zu können, um beliebt zu wirken, um das Mädchen, mit dem er dann sprechen wird, in Sicherheit wiegen zu können, sie dann noch einfacher rumzubekommen, im Zweifel bereits am helllichten Tag, im Kopierraum… . 

Ihr helles Lachen tönt aus dem Kopierraum. Ich sitze keine fünf Schritte von ihm entfernt, etwas zieht sich in mir zusammen: es funktioniert. Ich bin angewidert. 

Dann reißt mich ein “Hi, man! What are you up to?” aus meinen Gedanken, zurück ins Bett. Kurz vergesse ich, dass auch er es war, der sie im Kopierraum zum Lachen gebracht hat; kurz bin ich dem Collegestudenten fast dankbar für das Wegreißen vom Platz vor dem Kopierraum und beginne selbstvergessen eine Antwort:  

“Ich lieg’ nur hier und starre an die Decke, höre Smilies in mir tanzen, sie kratzen und sie beißen meine Flanken, gleich werde ich wieder um mich schlagen wie ein kleines Kind, das einfach weg will, einfach raus will. Im Hintergrund spielt ein Piano dissonante Melodien, eigentlich sind sie ganz schön, nur die Smilies, ihre Widerhaken schmerzen ein wenig… ein wenich… das spricht man weniCH.

Ich frag’ mich, was es will… von mir, das Piano, die Smilies, ihre roten Grinsebacken, das leise ‘ch’, wie eine Echsenmutter zu ihrem Neugeborenen. Ein weniCH, ein weniCH. :-), das Smiley.” 

Wieder reißt mich ein “Hi, man! What are you doing?” aus meinen Gedanken. 

Ich hasse ihn. Nach all den Jahren trägt er noch immer sein schmutziges, gelbes, nichtssagendes T-Shirt, nur hat er jetzt auch noch dieses beschissene Cap auf. Er hat Sport studiert, will den Kindern aber auch Philosophie nahebringen. Dieses scheiß Cap!

Er kann ja nichts dafür, kann nicht anders als gedankenlos sein ‘Hi, man! What are you doing?’ abzuspielen, seine austauschbaren Sätze, aber ich hasse ihn dafür. Er hat immer einen dummen Spruch auf den Lippen, mit ihm gibt es keine Langeweile, er muss sich keine Gedanken um die Konsequenzen seines Handelns machen. Nein, muss er nicht. 

Das Piano spielt jetzt ein weniCH schneller und mein Hals, der wird ein weniCH enger. 

Er hasst mich auch. Ich weiß es doch! 

Ich bemerke, dass nun nicht nur die Brust, sondern auch die Unterarme brennen, das ist neu. Es kratzt, sie wünschen sich an einen anderen Ort, zu einem hübschen jungen Mädchen, ein Mädchen dessen Gefühle, wie die Smilies mitten im Inferno, auf Regenbogen tanzen. 

Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben,
um einen tanzenden Stern gebären zu können.*

Nietzsche

Accordingly, tritt an die Stelle des Collegestudenten jetzt ein hübsches androgynes Wesen, schön wie eine griechische Göttin. Sie lacht über mich, wie sie das so häufig tut: Immer, wenn ich an sie denke. “Häufich, häufich.” HäufiCH denke ich an sie. Manchmal ist sie dabei auch nicht allein, holt ihre Götterfreundinnen, ihre höhnischen Götterfreundinnen. 

Ich dachte mal, wir hätten viel gemeinsam. 

Japanische Herzen habe ich von ihr bekommen. Japanische Herzen. 

Die Smilies tanzen jetzt lauter. 

Langsam läuft das aus dem Ruder. 

Nein, Camus!, netter Anfang, interessante Themenwahl, aber als ob der Wert des Lebens darin bestünde, möglichst lange vor sich hin zu existieren, als ob man einfach die Dauer des Lebens zu einem beschissenen Wert erheben könnte, nur weil man dann das Absurde betrachten kann. Als Versuch ja ganz nett, dem Absurden ins Auge sehen, ja schön, gut geeignet für einen Diss in einem Rapsong gegen alles, das sich einredet, sich selbst in seinem Streben nach mehr zu verwirklichen, aber als Philosophie, die sich anmaßt etwas bei Kierkegaard, Heidegger, Schestow und Dostojewski zu berichtigen, doch nicht. 

… Das kann doch nicht dein Ernst sein. Natürlich muss man springen, auf etwas beyond, etwas höheres. …

Nuancen und Widersprüche, die Psychologie, die ein “objektiver” Geist in alle Probleme einzuführen weiß, haben bei dieser Untersuchung und bei dieser leidenschaftlichen Sache [dem Problem des Selbstmordes] nichts zu suchen. Hier ist nur rigoroses, das heißt logisches, Denken am Platze.**

Camus

‘Nuancen und Widersprüche haben hier nichts zu suchen, die Psychologie hat hier nichts zu suchen.’ Nein, du bist wahrhaft kein Existenzialist. 

Verdammt Camus! Das ist doch keine Abhandlung dieses Problems, willst du mich verarschen?! Und ich hatte gedacht, du könntest mir erklären, warum Sisyphos glücklich ist. Sisyphos ist nicht glücklich, er ist beschäftigt; und ein Schicksal, das aus Verachtung überwunden wird, ist doch kein Glück. 

Sisyphos jedoch lehrt uns die höhere Treue, die die Götter leugnet und Felsen hebt. Auch er findet, dass alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.**

Camus

Ein Kalenderspruch, für diejenigen, die auf Kalendersprüche hinabsehen, mehr nicht; genauso auf den einen guten Spruch abgeklopft, wie alles andere auch; nur, dass der Rest eben zu nicht viel mehr taugt, als eben zu dem einen guten Spruch und ein wenig Verachtung für die Götter. 

In Kierkegaard’scher Verzweiflung liege ich also da… ‘Ich will das nicht, ich will hier raus, ich will hier weg!’, schreit das um sich schlagende Kind noch immer. Von wegen Kierkegaard’scher Verzweiflung. Ja, wohin denn? Was willst du denn, liebes Kind? Ich habe ja selbst keine Antwort, weshalb ich dem Zentaur, der auf seiner weiten Lichtung vor mir steht, nur seinen Pfeil verschießen will, nur Tiere jagen will, wilde Tiere jagen will, in seinen dicken Hintern beiße. Er ist doch an allem Schuld! Er und seine wunderschöne Lichtung. Nicht? Sie haben mir Hoffnung gemacht. 

Ein Rehlein, ein Rehlein zum Beispiel will er jagen. Schüchtern wollte es spielen, versteht den Ernst der Lage nicht. Das Herz klopft rasend im Kopierraum. Woher soll es das auch wissen? Es will doch nur gejagt werden, aber es ist doch so schön aufregend, es traute sich aus seinem Versteck, Rehleinsprache spricht es. So schön aufregend war es doch. 

Und ich, ich will nur wieder weinen können, an Märchen glauben können. Ich will in Tränen ausbrechen, während ich von Dostojewski spreche, vom Leid der Welt, vom neuen Testament, von Rehleinsprache, von der Erlösung. Und in diesem Moment wird der Pfeil des Zentauren zu Puschkins Schuss***. 

‘Ja, verdammt!’, denke ich. Wenn der General die Mutter seiner Kinder endlich wieder in die Arme nimmt… wie die Geliebte, die sie einst war, dann weiß er, wofür er lebt. Ich verstehe, dass so dann alles gut werden würde, dass er, der General, nicht der von den Göttern verdammte Sisyphos, dann findet, dass alles gut ist. 

‘Der Schuss’, wie aus weiter Ferne, sollte Hoffnung geben. Immerhin hatte der General, der in seiner Jugend noch, ohne mit der Wimper zu zucken, heldenhaft dem Tod ins Auge gesehen hatte, der gelacht hatte im Duell, als Silvio zum Schuss ansetzte; immerhin hatte dieser General, jenes Glückskind, jener goldene Ritter, wenige Jahre später an seinem Leben geklammert, weil er etwas gefunden hatte, dessentwegen es sich am Leben zu bleiben lohnt.

Gibt es nicht also doch einen Hoffnungsschimmer?


“‘Я пишу вам стихи’, ‘Я пишу вам стихи’” (Ich schreibe Gedichte für dich.), denke ich — vor einem roten Hintergrund. 

Ich bin der festen Überzeugung, dass unser Unterbewusstsein, den ganzen Tag träumt, wir uns nur von den fantastischen Geschichten ablenken, dass es Gedichte schreibt und uns Erinnerungen vorgaukelt, die wir so nie erlebt haben und neue spinnt. Pornodarsteller, Zentauren, höhnische Göttinnen und Väter lauern dort ebenso wie ein Wesen, das nur zwei lange, haarige Beine hat, keinen Körper, stattdessen sitzt direkt auf den beiden Beinen der braun-schwarz gescheckte, sprechende Kopf eines Hundes mit riesige Fangzähnen und kleinen Schweinsäuglein — und oben drauf, auf diesem Kopf, sitzt ein süßes, kleines, munteres Häschen — es ist dort festgewachsen und lässt die Kreatur bedrohlich und albern zugleich aussehen. 

Man muss nur einmal in sich hineinhorchen und schon… 

“Schau mal: die lebenden Toten, die existieren ja überall.”, sagt der Vater nachdenklich, mehr zu sich als zu seinem Sohn. Deutet dabei auf eine kaum erkennbare, durscheinende ‘0’ an der grauen Friedhofsmauer, in der grauen Stadt, in einem grauen Mantel.

Wenige Sekunden später, biegt das Kind auf seinem roten Laufrad, der einzige Farbklecks in der ganzen Szenerie, wieder um die Ecke, um die es schon gefahren war, bevor der Vater die ‘0’ im Augenwinkel gesehen hatte und zurück zur grauen Wand gegangen war.

“Nein, Papa, jetzt komm mit.”, sagt es.****

… springen sie einen geradezu an. 


“‘Я пишу вам стихи’, ‘Я пишу вам стихи’”. Ja, jeden Tag schreibe ich Gedichte, schreibe ich dir Gedichte, nur meist höre ich sie nicht. Nichtsdestotrotz liebe ich dich, meine androgyne Göttin, Amalia, den tanzenden Stern, das Mädchen mit dem Regenbogen der Gefühle. Irgendetwas trägst du in dir. So gerne würde ich mehr erinnern, würde ich mehr dieser Gedichte und Geschichten hören, mich weiter, zusammen mit dir, auf die wahrscheinlich sinnlose Suche nach dem Ewigen machen. 

Nur wer bin ich schon, dass ich die Aufmerksamkeit der Götter verdienen würde? Noch immer kein Homer, noch immer kein Goethe, kein Leonardo, noch nicht mal ein Sisyphos. Nur ich… Ilya, Ilya K.. 

Ilya K.

Sankt Petersburg, den 18.12.2020


*Nietzsche, F. W. 2016 (1883). Also sprach Zarathustra: ein Buch für alle und keinen. Санкт-Петербург: КАРО [St. Petersburg: KARO].

**Camus, A. 2000 (1942). Der Mythos des Sisyphos: Ein Versuch über das Absurde. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch. 

***Puschkin, A. 1988 (1830). Puschkin für unsere Zeit: Ein Lesebuch. Berlin: Aufbau-Verlag Berlin und Weimar. 

****Zander, M. C. 2020. Eine Erinnerung. marcozander.com