Vorwort

Keine Antworten, viele Fragen. 
Ich weiß nicht, was ich an ihm habe.

Abends

Es ist abends. Es ist die Zeit, zu der ich mich am wenigsten mag. Das beginnt meist gegen 21:25 Uhr, manchmal ein wenig früher, manchmal ein wenig später und endet… etwa gegen 23:10 Uhr. Manchmal etwas früher, manchmal etwas später. Vielleicht versuche ich deswegen, um diese Zeit bereits zu schlafen. 

Heute sehe ich all dem relativ gelassen entgegen. Ich sitze hier mit einer Kerze zwischen meinen Beinen, es ist 22:22 Uhr. Das Herzrasen ist da, der Kloß im Hals… auch. ‘Was ist das immer & immer wieder?’, denke ich. 

Morgen werde ich ein Gespräch mit einem Freund haben. Ich bereite es vor, wie ich das ganz gerne mal tue. 

Menschen finden das komisch, 
ich finde das nett. 
Einige dicke Tropfen Wachs 
fallen von der Kerze in mein Bett. 

Ja, ich bereite ganz gerne mal Gespräche vor. Morgen würde ich ihm zum Beispiel gerne erklären, (1) dass ich wohl kein NGO-Mensch bin, (2) was das über mich aussagt, dass ich keinen Sinn dabei empfinde, unser offenkundig Gutes zu tun, (3) was mir hingegen das Schreiben bedeutet, (4) was das, dass ich insbesondere mein egozentrisches Schreiben dem sozialen Engagement vorziehe, über mich aussagt, ja, (5), dass ich sogar eher im Schreiben als im sozialen Engagement Sinn finden will… und woran das liegt. Doch, wenn das (3) wirklich so wäre, sollte ich dann nicht… aufhören… zu arbeiten und einfach schreiben, mich voll & ganz dem Schreiben widmen, zumindest solange das Geld reicht; wäre das nicht zumindest mal ein echter Versuch? 

Aber man muss doch vorsorgen… für später, nicht?, für die Kinder, nicht?, falls man dann doch mal welche haben will? Will ich wirklich jemals Kinder? Bisher wird das Jahr um Jahr mehr zu einem ‘Nein’. 

Interessant ist das: meine ungeheure Angst, ungewollt Vater zu werden der letzten Jahre, so retrospektiv betrachtet; damals hieß es Kinder: ja, aber nur mit ‘der einen’… nun gut; heute frage ich mich, ob ich nicht eigentlich einfach schon eine ganze Weile weiß, dass ich keine Kinder will und diese panische Angst, wollte mir das nur zeigen. 


Außerdem liegt zwischen meinen Beinen eine Postkarte, von einem Mädchen, in das ich während der Schulzeit und auch noch eine Weile danach, schwer verliebt war; vor wenigen Wochen habe ich diese Postkarte von ihr bekommen. 

But space & freedom are not warm — still trying to assign them a temperature, cause it’s not cold. Freedom is black? Mix of all colors?

, schreibt sie. 

‘Die Kerze gibt mir nur genug Licht zum Schreiben, wenn ich sie richtig drehe. … Sodass das Wachs geneigt ist, in mein Bett zu tropfen.’, bemerke ich. 

Die Postkarte steht neben einer Kaffeepflanze, der Kerze und einigen Zündhölzern auf dem Fensterbrett in meinem Zimmer: 

Sie passt hier gut rein. 
Es erscheint mir keine schlechte Wahl, 
in das Mädchen verliebt gewesen zu sein. 

Vielleicht sollte ich öfter auf mein Bauchgefühl hören.

Es ist jetzt 22:47 Uhr. War diesmal gar nicht so schlimm. ‘Auch über Heideggers Man könnte ich noch einmal mit dem Freund sprechen.’, denke ich und puste die Kerze aus. 

Und da bin ich wieder. Es ist 23:08 Uhr. 

Das Problem ist ja, dass ich meinen Sinn gar nicht darin finden will, einem deutschen Autobauer dabei zu helfen, weniger Verlust zu machen!… oder einer CRM-Lösung, Software auch für KMU effizient und schnell nutzbar zu machen!… , obwohl ich Letzteres eine ganz nette Idee finde — es geht aber eben nicht darum, ob ich darin nicht vielleicht Sinn finden könnte; es geht darum, dass ich darin keinen Sinn finden will!, dass es das doch nicht gewesen sein kann… Und da sind wir auch bei der Nachricht von Estua, dem Mädchen aus Litauen. Sie ist über mein ‘Wer bin ich schon, das zu versuchen?’ gestolpert… dieses ‘das’ hatte etwas mit dem Schreiben zu tun, mit dem Einzigen, bei dem ich mir vorstellen könnte, Sinn darin finden zu wollen. ‘One should strive to do something extraordinary’, meint sie… die Form ihrer Findingness ist Science, Philosophy, and Art… der Content ist Love, aber nicht romantische Liebe… to feel others, the love for freedom, people and inspiration… das ist der Content ihrer Findingness… ich glaube, sie sollte dem nachgehen, sollte versuchen ihre kreativen Projekte voranzutreiben, vielleicht trägt sie etwas bei, etwas Gutes… zu… was auch immer, sie hat das Kaliber. 

Meine Findingness allerdings… mein Finden ist anders… es… von ihm bin ich nicht so überzeugt. Mache ich mir das nicht alles nur vor? 

‘Mein Finden… 
das sitzt recht einsam zwischen tiefgefror’nen Linden.’

, denke ich. 


Mein Finden

Mein Finden… 
das sitzt recht einsam zwischen tiefgefror’nen Linden, 
zwischen längst verstaubten Büchern,
den Knochen alter Dichter. 

Mein Finden… 
lebt in vergangenen Millennien, 
zwischen Mythen, recht lebendigen, 
und kann sich schwer verständigen. 

Mein Finden…
fühlt sich hingezogen, 
zu neu gebor’nen Künstlern, 
zu Orpheus Trauerliedern, 
und zu alten Birkenwäldern. 

Meist interessiert’s sich nicht für Menschen, 
oft nicht mal für die Engsten. 

Mein Finden…
projiziert auf dunkle Nymphenaugen, 
was ihm fehlt im Abendgrauen, 
es mag frisch gefärbte Haare, 
Augenringe und das Unnahbare;
ist hoffnungslos und lebensmüde, 
todesmutig und schwer liebend.
Viel zu gerne, meidet es die Welt, 
bevor es auseinanderfällt, 
bleibt zurück, verbirgt sich selbst,
mäandert, trauert und verfliegt 
 — wie melancholische Gedanken, 
mehr als zu warmen, 
zieht es es zu kalten Landen. 

Es zerspringt, zerschellt, 
wie tiefgefror’nes Eis, 
ahnt Leeren einer Wirklichkeit:
außen klar, doch Innen bleich 
 — Eurydike im Totenreich.


Mein Finden… 
das sitzt recht einsam zwischen tiefgefror’nen Linden, 
zwischen längst verstaubten Büchern,
den Knochen alter Dichter.

Die Knochen dieser Dichter 
sind eine Art Beschützer, 
sie bauen eine Mauer nur für uns
aus Philosophie, Kultur und Kunst.

… 

‘Doch etwas trägt sie ab.’, 
denkt mein Finden jeden Tag.


Über ‘Mein Finden’

Mein Finden heißt das… Gedicht… Findingness II die Antwort auf Estuas Nachricht, in der es in seiner ersten Fassung steht; Whatsapp conversations in the drawer die Nachricht, in der ich ihr versucht habe zu erklären, was Findingness für mich bedeutet. Tendenziell ist dieser Versuch gescheitert. Und der schönste Abschnitt aus dieser, meiner Antwort kam von ihr: 

When I imagine myself ‘found’ I imagine myself alone, with my work full of thoughts […]. Full of inspiration and new ideas in science, philosophy and art.

Ich weiß nicht, ob dieses Gedicht oder einer der Texte mein Finden, meine Findingness auch nur ansatzweise wiedergibt. Vermutlich nicht. In Whatsapp conversations in the drawer habe ich ihr meine Zweifel daran, ob dieses Gedicht wirklich irgendetwas wiedergibt, versucht darzulegen — und sei es nur in einem Nebensatz.

Der Austausch mit ihr, Estua, tut gut. Mir zumindest. Es wundert mich, dass sie noch nicht aufgehört hat zurückzuschreiben. Auf ihre letzte Nachricht…, die mit dem ‘extraordinary’, muss ich ihr noch antworten. Morgen… am besten beginne ich mit dieser Antwort… morgen. 


Morgen

Morgen werde ich die Antwort nicht beginnen, da werde ich ‘Schöngeist’ googeln, Bel Esprit. Morgen, da werde ich denken:

‘Mit ungründlich schrammt mein Finden, 
nur ganz knapp vorbei an unergründlich…’

Morgen, da werde ich denken: 

‘Meinem Finden… 
haftet die Maiestas von Schlagern an; 
es ist so poetisch wie Julia Engelmann, 
turnen einfach nur Cosplay und lila Haare an.

Mein Finden… 
ist die Weltflucht eines Bel Esprit.
Es ist und war und wird nicht viel.’ 

Das werde ich morgen denken. 

Trotzdem werde ich Estua antworten. Nicht heute und nicht morgen, nicht einmal übermorgen, aber bald. Bald werde ich versuchen zu formulieren, was ich wirklich denke… und nicht das, was mir irgendein nihilistischer Geist zuruft, blind aufzuschreiben. Denn ein anderer Geist ruft mir zu: 

[… to] speak philosophically and mean every word I [say].* 

Und das würde ich ganz gerne… irgendwann einmal tun. 

Fuck, ist das schwer. Fuck, bin ich da weit davon entfernt. 


Marco, Ilya, Kris — pick one. 


*Cavell, S. 1958. Must we mean what we say?. Inquiry, 1(1–4), 172–212.