Hi! 

Hier ist Marco. Ich schreibe so gerne Vorworte und deswegen wollte ich einfach mal vorab sagen, dass es heute um Zeit geht, um zwei Betrachtungsweisen der Zeit, um genau zu sein: die B- und die A-Reihe der Zeit. Für sich genommen, sind die vielleicht noch etwas trocken, aber spätestens wenn es um räumliche Zeit und Freiheit geht, lohnt es sich. … Würde ich behaupten. … Nun… wohl aber auch nicht für jeden. … Crazy. … Aber ja: Darum geht’s. So in etwa. Also los! Wir featuren heute (neben Ilya K. und Marika G.) Bergson, McTaggart, Mann und Shelley und du hättest schon bei Szene II dieses Textes sein können, wenn du nur ein wenig schneller lesen oder Vorworte überspringen würdest! Hhhh! Wer braucht schon Vorworte?! Also auf jetzt! Lies!


Einleitung: Thomas Mann

Marika G. und Ilya K. sitzen auf einer Bank vor dem Mathebau. Nach dem ihrer Beziehung eigentümlichen, mal kürzeren, mal längeren Schweigen sagt sie zu ihm: “Ich möchte dir etwas vorlesen, einen Text von Thomas Mann. Er heißt Lob der Vergänglichkeit und… er gefällt mir… glaube ich.” 

“Sie werden überrascht sein, mich auf die Frage, woran ich glaube oder was ich an höchster Stelle sehe, antworten zu höre: Es ist die Vergänglichkeit.

Aber Vergänglichkeit ist etwas sehr Trauriges, werden Sie sagen. — Nein, erwidere ich, sie ist die Seele des Seins, ist das, was allem Leben Wert, Würde und Interesse verleiht, denn sie schafft Zeit, — und Zeit ist, wenigstens potentiell, die höchste Gabe, in ihrem Wesen verwandt, ja identisch, mit allem schöpferischem und tätigen, aller Regsamkeit, allem Wollen und Streben, zum Höherem und Besseren. Wo nicht Vergänglichkeit ist, nicht Anfang, nicht Ende, Geburt und Tod, da ist keine Zeit, — und Zeitlosigkeit ist das stehende Nichts, so gut und so schlecht wie dieses, das absolut Uninteressante.” 

Thomas Mann

Zeit verbringen Marika und Ilya viel zusammen, manchmal herrscht unerträgliches Schweigen, manchmal angenehmes, doch irgendwann platzt es aus einem von den beiden dann doch heraus: “Kennst du eigentlich?”, “Schau mal, worüber ich letztens gestolpert bin.”, “Weißt du noch?”. 


Anderer Ort, andere Zeit: John McTaggart

Ilya K. sitzt alleine auf einer kleinen Mauer, die den Weg abgrenzt. Vor ihm liegt der Strand und das Meer, hinter ihm gehen in unregelmäßigen Abständen kleine Grüppchen von Menschen vorbei. Meist sind es Pärchen. Und kaum einer von diesen beachtet ihn, während er eine Linie in den Sand zeichnet. 

B-Reihe

Auf der Linie sind einige Zeitpunkte markiert und, wie das eben so ist, soll jeder Zeitpunkt auf dieser Linie früher als manche und später als andere Zeitpunkte sein. Zwei dieser Zeitpunkte sind besonders markiert: über dem einen skizziert er eine Tür, über dem anderen einen Stuhl: Zwei Ereignisse auf unserem Zeitstrahl, Teile eines Lebens, Teile eines Mädchens, Marika G.. 

Das erste Ereignis, wie sie mit sieben Jahren einen argwöhnischen Schritt in die neue Wohnung macht, in die sie mit ihrer Mutter eingezogen war, nachdem sich ihr Vater von dieser getrennt hatte. Und dann das zweite Ereignis… wegen Mathe und Englisch: der erste Tag nach den Sommerferien, 2013; mit 15 Jahren wieder in der achten Klasse; ihre Mitschüler nun noch jünger, noch mehr kleine Kinder, die sich über die immer gleichen Themen unterhielten. 

“Wenn wir die Zeit so, als einen Strahl, betrachten, bleibt die zeitliche Komponente dieser beiden Ereignisse immer gleich.”, spricht Ilya mehr zu sich als zu Marika. Der aufmerksame Leser wird sich vielleicht wundern: Saß Ilya nicht eben noch alleine auf seinem Mäuerchen in der den kommenden Abend einläutenden Sonne? Doch, doch. Nur stört sich Ilya nicht weiter daran und so soll sich auch der Leser nicht weiter daran stören, wenn Ilya nun weiter zu Marika gewandt spricht: 

“Die zeitliche Komponente bleibt immer gleich, weil der erste Schritt in die neue Wohnung immer vor deinem ‘weirden’, erneuten ersten Tag in der achten Klasse war…” Kurz grinst er freudig und fährt fort: “Beziehungsweise gewesen sein wird… beziehungsweise ist. Und dieser Zeitstrahl…” Er zeigt auf die Linie im Sand. “… ist eine Weise, die Zeit zu betrachten. Sie liegt uns nahe, weil wir es gewohnt sind, räumlich zu denken.” 

Dann wird er ernster. “Trotzdem ist diese Betrachtung der Zeit wohl eine Reduktion: Sie gibt vor, die Zeit zu messen, misst in Wahrheit aber nur die Veränderung im Raum. Doch… wir können die Zeit ja auch noch anders betrachten, vielleicht fundamentaler betrachten.”

Dann zeichnet er drei Buchstaben in den Sand: ‘V’, ‘G’ und ‘Z’.

A-Reihe

“In diesem Moment: Wir hier am Strand in Griechenland… liegen diese beiden Ereignisse in der Vergangenheit. Deswegen das ‘V’. Außerdem gibt es dann natürlich noch die Gegenwart ‘G’, was wir hier und jetzt wahrnehmen. Und als du, 2013, in der achten Klasse saßt, war dieser Moment hier und jetzt Zukunft ‘Z’ — anders ausgedrückt: er war noch nicht… vielleicht war er in dem Moment damals auch noch 17 verschiedene Zukünfte… auf einmal. Und, wenn wir jetzt sagen, dass die Zeit mehr als nur das früher- oder später-Sein eines Ereignissen auf einem Zeitstrahl ist, hat sich etwas verändert: Damals, in der achten Klasse, waren die Stimmen deiner Klassenkameraden und des Informatiklehrers, der dich für hochbegabt hielt, Gegenwart und unser heutiges Jetzt war die Zukunft, eine Zukunft, der es eigen ist, dass sie auch eine ganz andere hätte sein können.”

“In der ersten Betrachtungsweise…”, er deutet auf die Linie, “… hat sich die zeitliche Komponente unseres Moments hier und jetzt in Griechenland nie verändert: er war einfach später als die anderen Momente, ist früher als zukünftige Momente. In der zweiten Betrachtungsweise hingegen ist er Vergangenheit geworden, er hat einen Sprung von einer in eine andere Kategorie gemacht und die beiden Kategorien (Vergangenheit und Gegenwart) sind grundlegend verschieden, ebenso wie die Zukunft von ihnen verschieden ist. 

Erkennst du den Unterschied in der Betrachtungsweise der Zeit?”

Er zeigt nochmal auf die Linie im Sand. “Je nachdem, wie wir von der Zeit denken, sind wir einmal eben nur auf dem Zeitstrahl weitergerutscht. Und ein andermal…” Er zeigt auf die drei Buchstaben im Sand. “… hat sich etwas an den Ereignissen verändert. Einmal ist die Zeit früher- und später-Sein, einmal ist sie entweder Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft.” 

Dann setzt er mit seinem Finger ein großes ‘B’ über die Linie mit den beiden Skizzen darüber und ein großes ‘A’ über die drei Buchstaben in den Sand und fährt fort: “Ach… und die erste Betrachtungsweise der Zeit nennt man nach McTaggart übrigens die B-Reihe und die zweite die A-Reihe.” 

Räumliche Zeit und Freiheit: Henri Bergson

“Ja, also… ich fand das erstmal irgendwie einfach ganz cool. … Ich verstehe, wenn du das nicht so cool findest, aber… warum ich das jetzt alles gesagt habe ist, weil… weil die räumlich verstandene Zeit, die B-Reihe, nichts anderes als ein idealer Raum ist, der den Mangel hat, dass wir ihn nicht auf einmal begreifen können. Und da wird es halt spannend, weil sie damit genau das verliert, was sie ja eigentlich ist: Zeit… und das musste ich dir unbedingt erzählen.” Ilya grinst erst ein wenig beschämt, holt dann aber erleichtert Luft und sagt: “Aaalso… Bergson nutzt den Film zur Darstellung des Problems mit einem räumlichen Zeitbegriff. 

In kurz: Eine Abfolge von einzelnen starren Bildern, die uns wie eine Bewegung erscheint, ist nicht das selbe wie eine Bewegung. Ebenso wie der Bewegung mit der Aneinanderreihung von einzelnen Bildern, werden wir der Zeit nicht gerecht, wenn wir als Aneinanderreihung von Zeitpunkten begreifen. Die einzelnen Bilder sind, Bewegung wird — einzelne Zeitpunkte sind, die Zeit wird

Und dafür, dass die räumliche Betrachtungsweise der Zeit (die vorhin beschriebene B-Reihe) falsch ist, gibt es auch noch andere Indizien. Denn, wenn die Zeit wirklich wie ein Film, wie eine Aneinanderreihung von Bildern wäre, müssten wir den Film dann nicht nur effizient genug auffassen können, um den gesamten Lebensfilm auf einmal erfassen zu können… führe, das — wie vorhin angedeutet — nun aber nicht die Zeit ad absurdum?… Was ist denn das für eine Zeit, derer man sich aus Effizienzgründen am besten entledigen sollte, die es im Idealfall gar nicht gibt? 

Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich glaube, McTaggart sagt (wohl auch deswegen), Zeit ist nicht real; Bergson sieht darin vielmehr eine grundlegend falsche Auffassung der Zeit in der Naturwissenschaft. Deswegen kann die Naturwissenschaft auch die Freiheit nicht begreifen: Freiheit ist nur möglich, weil es Zeit gibt. Die räumliche Auffassung der Zeit, wie sie in der Naturwissenschaft vertreten wird, malt ein deterministisches Bild der Zeit und nimmt ihr dabei, was sie eigentlich ausmacht, kann so die Freiheit nicht verstehen. Alles, was ihr bleibt, ist, zu versuchen effizienter zu rechnen, schneller voranzukommen, aber echte Neuschöpfung kennt sie nicht. Denn in ihrem filmhaften Verständnis der Zeit gibt es nichts, was nicht schon immer da gewesen wäre. … Die nächste Szene war immer da, sie musste nur abgespult werden. 

Ich weiß ja auch, was du einwenden willst: ‘Aber nur, weil so ein Verständnis der Zeit vorliegt, muss das ja nicht zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden?’ Vielleicht könnte man dagegen einwenden: ‘Ja, aber wenn man sich eben auf Basis einer falschen Prämisse etwas erschließt, wird man auch immer nur auf eben jene Ergebnisse kommen, die diese Prämisse auch erlaubt: Szene, um Szene, um Szene.’ Vielleicht wirst du aber auch einwenden: ‘Aber schöpft die Naturwissenschaft denn nicht beständig Neues?, was haben wir der Naturwissenschaft seit Bergson (*1859, † 1941) nicht alles für neue Dinge zu verdanken?’ Und darauf erwidere ich: ‘Ich muss das alles nochmal nachlesen, aber Bergson würde vielleicht fragen: Sind diese wirklich neue Erkenntnisse oder geht es nur schneller voran, auf einem festgesetzten Weg? Vielleicht sind das alles keine Neuschöpfungen im eigentlichen Sinne. Und ließe sich nicht der immerwährende Determinismus der Naturwissenschaften dadurch erklären?’ 

Nun… ich finde das einfach alles ziemlich cool. Ist es doch auch, oder nicht? … Ich mein: Freiheit ist nur möglich, weil es Zeit gibt. Zeit wird, Raum ist. Sie sind zwei ganz verschiedene Welten, die einander nur an den äußersten Grenzen berühren. Echte Neuschöpfung braucht Zeit, aber nicht nur so, wie man das gemeinhin denkt… sie braucht die Zeit als Werden, wo der Raum das Ist ist, sie braucht die Intuition, um in reiner Anschauung das Fließende, das Fortlaufende, das Organische der Zeit zu erfühlen, wo der räumlich denkende Verstand in messbare Einheiten zerstückelt.” 

Mittlerweile kommen mehr und mehr Mücken, Ilya hadert damit, dass er Marika nicht wirklich zeigen konnte, warum das so wichtig ist, wieso es ihn aufwühlt und man der Welt davon berichten sollte; damit, wie sehr es ihn beschäftigt, dass er nicht weiß, was das jetzt für ihn bedeutet: Wie erfühlt man denn dann die Welt? Hmm? Was sollte er daraus denn nun machen?

Sowohl Marika als auch die Welten hüllen sich angesichts dieser alarmierenden Erkenntnis allerdings in rätselhaftes Schweigen. Dass wir einer grundlegend falschen Auffassung der Zeit unterlegen sind und in dieser keinen Zugang zu eigentlicher Neuschöpfung, zum Werden haben scheint die beiden nicht so sehr zu berühren wie Ilya. 

Aber, wie sehr er sich auch bemüht, meist schweigen sowohl die Welt als auch Marika. Beide beschäftigen sich mit ganz anderen Themen, deren Dringlichkeit, ja Brisanz wiederum Ilya nicht versteht. Letztere teilt zumindest ab und an sein berührt-Sein, sie liest ihm Texte vor, die ihr gefallen und ihn, den ohnehin bereits Verwirrten, vor neue Fragezeichen stellen. Und auch die Welt hat, selbst wenn sie sich nicht dazu herablässt, Ilya nach seiner Meinung zu Texten zu fragen, ihre Vorzüge: Phantasien zum Beispiel, Phantasien, Marika und einige Gedichte zum Beispiel. Dann ist da auch noch die schön magisch glitzernde Schlange am Boden von allem, ellenlange Whatsappnachrichten über Findingness, ein paar wenige Menschen und alles, was einen eben innerlich zum Platzen bringt… oder besser zum Überfließen?, alles, was man nicht zu fassen bekommt, aber mit ein wenig Glück fließt. 


Worlds on worlds: Percy Shelley 

“Ich weiß immer noch nicht, ob mir der Thomas Mann Text gefällt.”, denkt Ilya und Marika summt: 

“Worlds on worlds are rolling ever 
From creation to decay,
Like the bubbles on a river 
Sparkling, bursting, borne away.

Percey Shelley

But they are still immortal. …
through birth’s orient portal…. 

… 

Worlds on worlds are rolling ever 
From creation to decay,
Like the bubbles on a river 
Sparkling, bursting, borne away.”

Percey Shelley

Marco Z. (im Auftrag von Ilya K.) 

Literatur

Sörig, H. J. (1970). Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Kohlhammer: Stuttgart. 

McTaggart, J. E. (1908). The unreality of time. Mind, 457–474.

Bergson, H. (1889). Zeit und Freiheit. Europäische Verlagsanstalt: Hamburg. 

P.S.: Bei der Recherche für diesen Text bin ich auch über diese Seite gestolpert und dachte mir: “Da sitzt sicher ein Mensch dahinter, der viel mehr Ahnung von Dingen hat als ich.” Habe sie aber noch gar nicht ganz gelesen.

http://nodata.antipattern.net/de/