Um den Sinn kreisen? Ist es nicht vielmehr so, dass ich um ihn ellipse? Ich entferne mich mal mehr, mal weniger weit von ihm, nur um dann in einer harten Kurve zu ihm zurückzukehren. Ich nehme auf immer neue Weise und in einem immer anderen Winkel Abstand, um mich dann wieder anzunähern. 

Ja, jetzt entferne ich mich wieder von ihm: Die Gefahr besteht, ihn, zwischen langen Arbeitstagen, Updates und Erwartungen, zu vergessen, sich dem verletzlichen Streben zu entwöhnen und ganz aus seinem Gravitationsfeld zu verschwinden — der Narzisst in mir vergleicht das mit einem winzigen Planeten mitten in einem unvorstellbar großen Universum. Verschwindet dieser, unser winziger Planet, verliert sein Universum womöglich alles bewusste Leben. Und der sich sehr wichtig nehmende Planet fragt: “Wer will dann noch behaupten, dass etwas existiert?”

Mit diesen Gedanken gehe ich vom Московский вокзал (Moskauer Bahnhof) zur Нева (Newa) und spaziere an ihr entlang. 

Hier darf ich sein: ich, Umwelt meiner Welt. Auf der anderen Seite des Flusses herrscht bedrohliche Gewissheit, das zersetzende Man, dröhnende Ablenkung und alle drei kommen mit den Jahren immer näher — je älter ich werde, je weiter die Zeit voranschreitet. Alles, was meine Welt und ich ihm entgegenzusetzen haben, ist eine naive, nagende Stimme im Hinterkopf, ein leicht zu entwöhnendes Streben, ein trüber Blick auf something I care about, von dem ich mit bald 27 Jahren noch immer nicht wirklich Ahnung habe, was das nun eigentlich sein soll. 

Ich setze mich auf meine Bank: zwei Kapuzen, darunter eine Mütze und dann ich, Ilya K.: kein Einzelgänger, in der Unabhängigkeit von den Zeitströmungen seiner Umwelt geradezu erstaunlich. Kein Lew Schestow, kein Genie, das ex nihilo schöpft. Trotzdem jemand, dem es schwer fällt, sich eine Weile einfach vom Strom der Zeit mitreißen zu lassen; jemand, der sich aber auch gerade deswegen dazu entschlossen hat, sich mitreißen zu lassen: “Sei mal eine Weile in der Zeit, Ilya K.. Lebe, wie es sich für dein Alter gehört; kümmer’ dich um immer neue Frameworks, Tools und Versionen.”, sage ich mir. 

“Hmm… Ja. Und vermutlich geht es mir dann sogar besser.”, erwidere ich mir. Die traurigen Stunden alleine, werde ich trotzdem vermissen. Den Brückenpfeiler neben mir, an dem 

“Все люди, да не все личности” 
(Alle sind Leute, doch nicht alle sind Personen.) 

steht, auch. Als leises Stechen werden sich die beiden ab und an melden. Dann werde ich an Harry Frankfurt und sein Konzept einer Person denken; dann wird die Angst noch zunehmen, mich in der schnelllebigen Welt des großen Mans zu verlieren. Ja, aber so lange das Stechen noch da ist, ist alles gut; solange der Widerstand noch da ist und die Entschlossenheit im Notfall die Reißleine zu ziehen — auch dann noch, wenn man viele enttäuscht —, ist alles gut. Und daher überwiegt die Vorfreude: Dem Sinn gefällt das Stehenbleiben nicht.

Ich glaube, dass ich mein bestes Leben nicht leben werde, wenn ich versuche direkt auf das zuzugehen, was mein Herz höher schlagen lässt, sondern wenn ich ein wenig darum herum ellipse. Vielleicht, weil es sich so besser beobachten und betrachten lässt. Und daher folgt ein neuer Abschnitt, eine neue Sprache, ein neues Land: Deutsch will ich lernen; у меня русская душа (Ich habe eine russische Seele), aber ich möchte die Seele dieses anderen Landes erfahren. Es geht nicht darum, Geld zu verdienen oder einen nächsten beruflichen Schritt zu machen, sondern darum nicht viel sagend, aber weiterhin nichts zu sagen habend, zu enden. Es geht darum, aus verschiedenen Perspektiven einen Blick auf etwas im Dunst und Nebel Hängendes zu erhaschen. Alles andere ist in erster Linie dazu da, die Reise erträglich zu gestalten, dass sich neue Möglichkeiten auftuen, um um den Sinn zu ellipsen.  


Ilya K., 17. Februar 2021, Sankt Petersburg.