Wieder sitze ich auf meiner Bank an der Newa. Mein Blick ist auf die schwarze Aufschrift am Brückenpfeiler gerichtet und der Fluss verschwindet im implizit, unaufmerksam mitwahrgenommenen Hintergrund. 

Все люди, да не все личности” (Alle sind Leute, doch nicht alle sind Personen) steht auf der besser ausgeleuchteten Seite, diesseits der Grenze hin zum mitwahrgenommenen Hintergrund. 

“Eine Anspielung auf das Sprichwort ‘Все люди, да не все человеки’ (Alle sind Leute, doch nicht alle sind Menschen.), angebracht in der Hoffnung, dass die Menschen, die es lesen, sich fragen, was — wenn einen Menschen die Menschlichkeit — eine Person ausmacht. Wer ist Person, wer nicht?”, denke ich. Währenddessen wandert meine Aufmerksamkeit weg vom Brückenpfeiler, hin zum Gedanken an das Sprichwort, an человек (Mensch) und люди (Leute) und auch der konkrete, kyrillische Schriftzug verschwindet im notwendig mitgeschauten, irgendwie verschwommenen Bewusstseinshof. Der Hof wird immer bleiben. Er ist noch da, wenn ich träume, wenn ich schlafe, wenn ich nichts tue. Aus ihm kann ich versuchen, mir Dinge herauszupicken, sie wachen Auges zu schauen, oder die Dinge picken mich heraus, sie zu schauen: ein Schiff zum Beispiel, das als Bewegung im Hintergrund meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es springt hervor — ich kann mich ihm erwehren, indem ich die Augen schließe. Dann springt mich ein Gedanke aus dem Hinterhof meines Denkens auf ganz ähnliche Weise an, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich und ihm habe ich nichts entgegenzubringen — nur den Versuch, etwas anderes aus dem Hintergrund hervorzuholen. 

Doch was ich auch tue: Den Hintergrund kann ich nie in voller Aktualität zum Erlöschen bringen — ob in erster Linie denkend oder primär sinnlich wahrnehmend, er bleibt. 

Ja, mittlerweile habe ich die Augen wieder geöffnet. Mein Blick ist jetzt auf das Schiff gerichtet; das heißt: mein Bewusstsein überführt das Erlebnis in den Modus aktueller Zuwendung. Nur bleibt es egal, wohin ich meinen Blick auch wende: Das Schiff steht vor einem verschwommenen Hintergrund: der Newa, die in extremen Fällen, wenn der Westwind besonders stark in den finnischen Meerbusen drückt, ihre Fließrichtung ändert. In dem Moment, in dem ich mir den Fluss bewusst mache, verhindert mein Versuch den verschwommenen Hintergrund zu schauen das Gestaltwahren der Newa. Ich verliere das vormals Explizite aus dem Blick. Ja, jetzt, wo ich dieses Wechselspiel einmal erkannt habe, irritiert mich der verschwommen Brückenpfeiler beim Wahrnehmen des gerade noch Nicht-mehr-Hintergrund-Gewesenen. Wie sehr ich auch versuche, diesen Bewusstseinshof zu schauen, er taucht an anderer Stelle wieder auf: um meine Taschenlampenaufmerksamkeit herum. Seine Existenz lenkt mich ab, wohin mein Blick auch wandert: Da ist der Hintergrund, den ich nicht zum Verschwinden bringen kann. 

Ich versuche einen Gedanken zu fassen. Ich nehme mich zusammen und denke klar und deutlich: “In extremen Fällen ändert die Newa sogar ihre Fließrichtung.” Doch auch dieser Gedanke hat einen notwendig mitgedachten Hintergrund. Alles kann aus ihm hervortreten in den Modus der Aktualität, doch bald zieht es es wieder zurück: in die unendlich viel größere Inaktualität, aus der das Phänomen hervorgetreten war. Teil meines Phänomens, meiner Newa — hier und jetzt — ist ein sich umkehrender Zeitfluss, der dann über die Ufer tritt und Sankt Petersburg überschwemmt; die sich in Granit kleidende Stadt geht in der Ostsee unter. 

Ja, ich meine, meinen Blick lenken zu können, doch wenn mich etwas aus dem verschwommenen Hintergrund anspringt, kann ich nichts machen. Ich bin ihm ausgeliefert. Und je mehr ich daran denke, desto nervöser macht es mich. Ich bin notwendig von etwas umgeben, das sich in Raum, in Zeit, in Inaktualität unendlich ausdehnt. Mich irgendwo dazwischen wiederzufinden, ist ein beklemmendes Gefühl, aus dem ich nicht hervortreten kann… außer im Schlaf. Mit ein wenig Glück verschwimme ich mit aller Inaktualität; unbedeutsam für die Gegenwart, für meine Gegenwart bin ich geworden, die Grenzen sind endlich verschwunden. Deswegen schlafe ich so gerne. 

Am liebsten träume ich allerdings. Da ist der verschwommene Hintergrund ein wenig schärfer und das explizit Hervortretende unschärfer. Ja, ich kann auch hier und jetzt, im Erinnern und Vermuten meinen Standpunkt in Raum und Zeit wechseln, aber dort braucht es für derlei Reisen keine aktive Bewusstseinsanstrengung; innerhalb weniger Sekunden kann man Minuten erleben. Trotzdem schmerzt mein Kopf dort nicht vom Denken, vom Nicht-Verstehen, vom Grenzen-Ziehen. Dort ist Erholung, ein Schauplatz, ein Schlachtfeld; tanzende, pinke Schlächter, die aus sicherer Entfernung, von einem hohen Turm wie Ameisen wirken. Wie toll wuseln sie auf ihrem Schlachtfeld, das von oben betrachtet nun ein Schachfeld ist. Umgeben von ein paar tiefen Gräben, über die sich immer gleiche Steinbrücken hin zu saftigen Wiesen spannen, hacken sie mit ihren Äxten auf einander ein und werden immer niedlicher. 

Ilya K. 


Schau’ mal, ein Reclam-Heft*

Husserl, E. (1985) Die phänomenologische Methode (Ausgewählte Texte I). Reclam: Stuttgart. 

*so richtig, im gelben Mantel und mit «STEMPEL GARAMOND»-Schrift.

P.S.: Was hier besprochen wird ist aus dem Abschnitt: Die phänomenologische Fundamentalbetrachtung.