von Marco Zander

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Wie entsteht Sinn in unserem Leben? Dieser Essay versucht Teile einer Antwort auf diese Frage zu geben. In ihm versuche ich der Leserin oder dem Leser die Lebenswelt als Sinnesfundament unserer Motivationsstrukturen darzulegen. Dabei stelle ich zunächst kurz die Lebenswelt vor: Was ist die Lebenswelt?, zeige dann, inwiefern sie uns als Sinnesfundament dient, um dann in Anlehnung an Rump (2018) die Motivationsstrukturen als eine Betrachtungsweise von Husserls Bewusstseinsstrukturen anzudeuten. Die Einsicht, die am Ende steht, die den Leser als solche wohl nicht überraschen wird, mir in ihrer Ausprägung aber neu war, kann so zusammengefasst werden: das Lebendigsein als solches ist notwendig für den Sinn und seine in ihm verankerten Bewusstseinsstrukturen beeinflussen ihn.     

Audioversion des Essays mit ein paar Kommentaren und dem Versuch das Ganze… dem Hörer oder auch der Hörerin so vorzulesen, dass man dem besser folgen kann.

Die Lebenswelt als Sinnesfundament unserer Motivationsstrukturen

Ein Laptop, eine Kerze, eine Teetasse, ein Fenster: Recording in Charkiw.
Wo ich ins Handy sprach.

Wie es zu dem Essay kam

Der Entschluss, die Lebenswelt und wie sie als unser Sinnesfundament fungiert, als Thema für diesen Essay zu wählen, fiel als ich Husserl, den ich im bisherigen Seminar als eher nüchternen Schreiber kennengelernt hatte, in seiner Krisis-Schrift eindringlich, geradezu leidenschaftlich vor meinem inneren Ohr von „Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins“ (1950: 4) sprechen hörte:

Kann aber die Welt und menschliches Dasein in ihr in Wahrheit einen Sinn haben, wenn die Wissenschaften nur in dieser Art objektiv Feststellbares als wahr gelten lassen, wenn die Geschichte nichts weiteres zu lehren hat, als daß alle Gestalten der geistigen Welt, alle den Menschen jeweils haltgebenden Lebensbindungen, Ideale, Normen wie flüchtige Wellen sich bilden und wieder auflösen, daß es so immer war und sein wird, daß immer wieder Vernunft zum Unsinn, Wohltat zur Plage werden muß? Können wir uns damit beruhigen, können wir in dieser Welt leben, deren geschichtliches Geschehen nichts anderes ist als eine unaufhörliche Verkettung von illusionären Aufschwüngen und bitteren Enttäuschungen?

Edmund Husserl, Hua VI

Wie Husserl schienen auch mir noch heute Menschheitsfragen aus dem Reich der Wissenschaft verbannt (vgl. 1950: 5) – im besseren Fall an Gespräche mit Freunden, im schlechteren an Lebensratgeber á la Am Arsch vorbei geht auch ein Weg: Wie sich dein Leben verbessert, wenn du dich endlich lockermachst. oder Das Café am Rande der Welt ausgelagert. Und ich meine, den Verlust, den Husserl darin sieht, nachfühlen zu können. Das Ziel, das ich mir daraufhin setzte, war einen groben Eindruck davon zu gewinnen, wie Husserl eine dieser brennenden Fragen – wie Sinn in unserem Leben entsteht – beantwortet. Nachdem das zu einem hinnehmbaren Teil erledigt war, wollte ich versuchen, einen Essay zu schreiben, der ein paar nachvollziehbare Ansätze einer Antwort auf diese Frage gibt.

Die Lebenswelt als Sinnesfundament unserer Motivationsstrukturen

Das Ergebnis ist nun, dass ich versuche, dem Leser bzw. der Leserin mit nachvollziehbaren Beispielen (potenziell geteilter erlebter Erfahrung) die phänomenologischen Konzepte der Lebenswelt und der Sinnbildung in dieser näherzubringen, weil ich sie (in Anlehnung an Husserl) als unser Sinnesfundament verstehe. 

Die Lebenswelt

Lebenswelt bezeichnet ganz allgemein die menschliche Welt in ihrer vorwissenschaftlichen Selbstverständlichkeit und Bedeutsamkeit.“ (Rolf, 2010: 1385) Obwohl Husserl den Lebenswelt-Begriff in seinen phänomenologischen Fundamentalbetrachtungen noch nicht verwendet, denke ich, dass die Auseinandersetzung mit diesem Text hilft, ein besseres Verständnis für den Lebenswelt-Begriff zu erlangen. Nach einigen Meditationen darüber, wie wir uns als Menschen in natürlicher Einstellung[1] in der Welt vorfinden, weist Husserl darauf hin, dass die Welt für uns „nicht [… als] bloße Sachenwelt [da ist], sondern in derselben Unmittelbarkeit als Wertewelt, Güterwelt, praktische Welt.“ (1985: 133) In meiner Lebenswelt ist konstitutiver Bestandteil meines Freundes, dass ich ihm vertraue; des Hundes, dass er zum guten Leben dazugehört; des Fleischergerüsts im Garten meiner Großeltern, Klimmzugstange zu sein. In ihr ist mir der Inn-Damm zwischen Neubeuern und Neubeurer See vertraut; befinde ich mich in meinem Heimatdorf, ist es nicht nur für mich, sondern für den Großteil der Dorfbewohner und ehemaligen Dorfbewohner normal, einen anderen Menschen zu grüßen, läuft man ihr oder ihm über den Weg – wir teilen hier eine gelebte Erfahrung. Ich denke, Husserl spricht von der Lebenswelt, wenn er sagt, dass es die Welt ist,

in der ich mich finde und die zugleich meine Umwelt ist[. Auf sie] beziehen sich denn die Komplexe meiner mannigfach wechselnden Spontanitäten des Bewußtseins: Des forschenden Betrachtens, des Explizierens und Auf-Begriffe-bringens […]. Ebenso die vielgestaltigen Akte und Zustände des Gemüts und des Wollens: Gefallen und Mißfallen, Sich-freuen und Betrübtsein, Begehren und Fliehen, Hoffen und Fürchten, Sich-entschließen und Handeln.

Edmund Husserl, Die phänomenologische Fundamentalbetrachtung.

           Vor diesem Hintergrund können wir besser verstehen, was es bedeutet, wenn Husserl später – in der Krisis-Schrift – schreibt, dass in der Lebenswelt alles Sehen und Wahrnehmen – indem es mich selbst miteinbezieht – immer auch Vor-haben und Vor-meinen ist (vgl. 1950: 51). Ohne Leben, keine Lebenswelt; wie mein Leben ist auch die Lebenswelt immer in Bewegung, sie antizipiert mein Dasein und erinnert meine Vergangenheit in allem was ich wahrnehme: Ich sehe keine Frau mittleren Alters, sondern meine Mutter; keine verflochtenen, roten Kunststoffstränge, sondern die Rückseite eines Strandkorbes; ich verpasse keinen Bus, sondern bin unzuverlässig, schon wieder zu spät, werde einen schlechten Eindruck hinterlassen.


[1] „in natürlicher Einstellung“ verstehe ich als die Welt als daseiend hinnehmend, im naiven Seinsglauben in der Welt seiend, in dem der Baum vor mir vor jeder Reflexion erstmal einfach da ist.


Als Sinnesfundament

Diese Lebenswelt, mit ihrem Vor-meinen in jedem Wahrnehmen und ihrer Werte-, Güter- und der praktischen Dimension, bildet unser „Sinnesfundament“ (1950: 48). Sinn – so verstehe ich Husserl – entsteht nur in Bezug auf die Lebenswelt. Wenn ich zunächst mit n = 1 zeige, dass die beiden unterhalb stehenden Terme gleich sind…

Eine mathematische Gleichung: Die Summe von i=1 bis n über (2i - 1)² ist (4n³ - n)/3.

… und danach die Summe über n+1 in den rechten Term, in dem ich ebenso n = n+1 setze, überführe, so habe ich die Ausgangshypothese mittels Induktion bewiesen. Das funktioniert (mit ein wenig Übung und unter Zuhilfenahme einiger Grundrechenoperationen und binomischer Formeln) ziemlich einwandfrei. Wie ich Husserl verstehe, war während meines gesamten Rechenprozesses das ursprüngliche Denken allerdings ausgeschaltet. Ich hatte keine sinngebende Denkleistung (Husserl nennt das auch das „Erkennend-Leistende“ (1950: 52)) vollbracht, weil ich nirgends den Bezug zwischen empirisch-anschaulichen und den exakten Gestalten herstellte. Das verhängnisvolle Versäumnis und einer der Auslöser der Krisis der Wissenschaften und des europäischen Menschtums besteht nun darin, dass fatalerweise angenommen wurde, dass die Welt der exakten Gestalten und der idealisierten Natur immer ohne weiteres anwendbar auf die Lebenswelt bliebe (vgl. 1950: 48 ff.). Husserl bestreitet nicht, dass die Wissenschaft, wie wir sie betreiben, immer mehr neue, mächtige, vorausschauende Hypothesen hervorbringt; meint jedoch, dass sie dabei im Selbstbezug verharrt, ihre idealisierte Natur für wahr nimmt, wo sie doch ihre neuen Hypothesen und Induktionen nur aus dem idealisierten Abbild der Lebenswelt schafft. Sie, die Lebenswelt, bildet jedoch unser eigentliches Sinnesfundament.  

In ihr richtet sich mein Bewusstsein, eingebettet in gelebte Erfahrung – d.h. was die Sinne sehen, hören, riechen, schmecken, tasten; wem oder was wir Bedeutung beimessen und was für uns Sinn ergibt – , auf gelebte Erfahrung: Ich höre einen Pistolenschuss und ohne einen bewussten Gedanken darauf zu verwenden, drehe ich mich ruckartig zum Fenster um, schaue auf die Straße, scanne die Umgebung, finde ein Auto – ich beginne die Meinung zu entwickeln, dass das Geräusch nur eine Fehlzündung war (Rump, 2018: 326). In meiner Lebenswelt gelebter Erfahrung hatte die Situation als Pistolenschuss ihren Ausgang genommen und als fehlzündendes Auto wurde das Geräusch in einen Bedeutungshorizont eingeschrieben – auf Englisch: I made sense of the situation (vgl. Schnell, 2018: 11, Rump, 2018: 326).

Unser Bewusstsein entspringt der gelebten Erfahrung und die gelebte Erfahrung ist bereits einfach da für mich. Die gelebte Erfahrung präsentiert sich uns dabei als ein Nexus aus Strukturen, die zwischen Sein und dem Bewusstsein vermitteln und gewissermaßen vorgeben, was – nicht wie bei Kant möglich, sondern – lesbar ist (vgl. Fellmann, 2016: 36 ff.). Aktiv-leistend kann ich mich auf die Geräusche in meiner Umgebung konzentrieren: kann kraft meines Bewusstseins versuchen, Gedanken auszuschalten, nur Töne wahrzunehmen (vgl. Husserl, Melle & Vongehr, 2020: LIII). Doch selbst dann nehme ich sie noch wahr; nehme sie zudem beispielsweise als Klavier, Gitarre, Zupfinstrument oder auch als dumpfes Wummern wahr – immer an Vorstellungen, Gefühle und Willen gebunden, nicht als alleinstehendes Geräusch (vgl. ebd.: LIII). Dementsprechend unterscheidet Husserl zwischen Denk-, Gemüts- und Willensakten des Bewusstseins: den drei untereinander verflochtene Bewusstseinssphären (vgl. ebd.: LXII). Lisa Papes[2] Beispiel zeigt gut, wie die drei untereinander verflochtenen Bewusstseinssphären Sinn schaffen. Lisa Papes Vater hat Parkinson. Für ihren Vater hat sie ein Walking Aid Kit erfunden, das ihm geholfen hat, wieder gehen zu können: ein auf den Schuh geklemmter Laser zeigt dem Erkrankten an, wohin er seinen Fuß im nächsten Schritt bewegen muss. Lisa will ihrem Vater helfen. Sinn entsteht für Lisa Pape aus dem Verbinden ihres Lebens, ihrer Handlungen und Gedanken mit dem Wunsch ihrem Vater zu helfen und der Entscheidung, dass dieser Wunsch ihr Handeln bestimmen soll, aber auch durch den Bezug auf ein bereits zuvor bestehendes technisches Interesse und der Antizipation anderen Menschen zu helfen, die ein ähnliches Schicksal wie ihres und das ihres Vaters erlitten haben. Immer macht sie dabei Verbindungen.   


[2] Walking with Path (https://walkwithpath.com/pages/about, abgerufen am 27.08.2021)


Wie ich Rump (2018) verstehe, wird in Merleau-Pontys Phänomenologie dann eine Betrachtungsweise dieser Strukturen als Motivationsstrukturen herausgestellt. Als Motivationsstrukturen sind uns diese Strukturen zu verschiedenen Graden bewusst und unbewusst (in der untenstehenden Grafik durch die Transparenz gezeigt) und verschieden bedeutsam bzw. weniger bedeutsam in unserer gelebten Erfahrung (in der Grafik durch die Strichstärke angezeigt). Mein Verständnis dieser Motivationsstrukturen ist, dass sie Lebewesen teils biologisch vorgegeben sind, sich teils aus zutiefst persönlichen Gedanken, Umständen oder auch Rollenbildern speisen (vgl. ebd.: 327). Bewusst- und unbewusst[3] befindet sich unser Leben mit diesen Motivationsstrukturen in Wechselwirkung und so entsteht Sinn: im Großen wie im Kleinen die Orientierung meines Lebens in der Welt. Rolf (2010: 1385) beschreibt im obigen Zitat (siehe Gliederungspunkt II.1) die Lebenswelt zwar als die „menschliche Welt“, es wirkt auf mich aber so als wären es vielmehr die Umstände unseres Lebendig-, gar nicht so sehr Menschseins, durch die sich einem Lebewesen die Lebenswelt sinnvoll präsentiert.

Einige Rechtecke vor gelblich-grünem Hintergrund versuchen gelebte Erfahrung mit Motivationsstrukturen darzustellen.
Abbildung 1 – gelebte Erfahrung mit Motivationsstrukturen

Während ich diese Zeilen schreibe, liegt beispielsweise einer unserer Familienhunde neben mir und es hat den Anschein, dass die Hündin träumt. Manchmal beginnt sie im Schlaf die Beine laufend zu bewegen, fletscht die Zähne oder bellt leise: sie scheint eine neue gelebte Erfahrung zu machen, die für sie Sinn ergibt. Sie verbindet ihr Sein mit einem Jagdtrieb, vielleicht auch Hunger oder einem Beschützerinstinkt – alles Teil ihrer Motivationsstruktur – und so entsteht auch für sie Sinn.

Ich hoffe, langsam wird deutlich, dass Sinn wesentlich relational ist: Er entsteht im Bezug auf die Lebenswelt. Und unsere Sprache ist ein Hilfsmittel, Verbindungen zu machen. Eine wirkliche, vorsprachliche und körperliche Sinnempfindung, die über das bloße Begreifen der Worte im Bewusstsein hinausgeht, verbindet viele, mitunter stärkere Motivationsstrukturen. Sie kann zum Beispiel bei einem Gespräch entstehen: Ein sich als Schreibender identifizierender junger Mann sitzt mit seiner Freundin am Essenstisch. Sie sprechen über Tolstois Tagesablauf, als sie meint „Du bist doch viel besser als dieser Tolstoi.“. Aus logischer Perspektive hat dieser Satz eine Bedeutung, bewusstseinstheoretisch hat er eine Intentionalität (vgl. Fellmann, 2016: 50ff.); und der bewusstseinstheoretische Bezug eines Subjekts auf etwas, die Intentionalität, geht dabei, so würde ich meinen, über die bloße logische Bedeutung hinaus.   Als Intentionalität kommt das Gro des Sinns, wie es sich dem Schreibenden präsentiert, über dessen teils bewusste, teils unbewusste Verbindung zu seiner Motivationsstruktur, subjektrelativ zustande. Ein weiteres Indiz dafür, dass der Sinn unserer Lebenswelt über die logische Bedeutung und auch den logischen Sinn hinausgeht, ist, dass wir oft etwas als bedeutsam erkennen, ohne ausdrücken zu können, worin das etwas besteht, auf das sich die Intention bezieht (vgl. Rump, 2018: 319). In einem zweiten Beispiel tritt die passivisch, unter der Schwelle zum thematisch, ausgedrückten Bewusstsein liegende Sinnquelle vielleicht besser hervor (vgl. ebd.: 328): Man stelle sich einen Studenten und eine Abiturientin vor, die ihre gemeinsame Empfindung, den Ekel vor Badewannenwasser, miteinander teilen. Es ist nicht so, dass sich die Abiturientin besonders als eine sich-ekelnde Person identifizieren würde. Die Verbindung zu Motivationsstrukturen ist subtiler: feiner, in der Grafik vermutlich auch transparenter. Sicherlich könnte man sie teils aufschlüsseln. Zum Beispiel in einen Anteil Aufregung durch das in-Nacktheit-verbunden-Sein oder das Finden einer Gemeinsamkeit im Reflektieren der eigenen Tätigkeit oder im Schrecken-im-Alltag-Sehen. Aber gerade das Aufschlüsseln würde dem Sinn, den die Abiturientin in dem Moment empfindet, nicht gerecht werden. Nehmen wir zum Beispiel an, ein Teil des Sinns speist sich aus dem gemeinsamen in-Nacktheit-verbunden-Sein: Sollte der Abiturientin dieser Sinn auch nur bewusst werden, hat sich die Situation und ihr Sinn schon verändert; stellt sie ihn heraus, verändert er sich noch einmal mehr. Eine zutreffendere Beschreibung scheint mir zu sein, dass beim Bewusstwerden des Gesagten, mit dem Wahrnehmen des anderen (mit Werte-, Güter- und praktischer Dimension) und dem Antizipieren der nächsten Worte, Tage, Wochen, Jahre, Sinn entlang der bewussten und unbewussten Motivationsstrukturen durch das Bewusstsein hindurchsickert; es in manchen Situationen vielleicht gar ganz durchtränkt.


[3] Nach Fellmann würde Husserl wohl nicht unbewusst sagen, sondern mehr, dass „das Bewusstsein ein Feld von Beziehungen und Verweiszusammenhängen, die nicht restlos zur Erscheinung kommen[, bildet]“ (2016: 38).


Fühlend-wertend und vorstellend-denkend wollen wollen

Wir haben also festgestellt, dass Sinn wesentlich relational ist. Auch indem er zeitliche Zusammenhänge bildet, schreibt er unser Leben in einen Bedeutungshorizont ein und so orientieren wir uns anhand des Sinns in unserem Leben. Außerdem hatte ich oben das Beispiel unserer Familien-Hündin gebracht und vermerkt, dass es mehr die Umstände unseres Lebendig-, gar nicht so sehr Menschseins sind, durch die sich Lebewesen die Lebenswelt sinnvoll präsentiert. Für mich war diese zentrale Rolle des Lebens für den Sinn in dieser Ausprägung eine neue Einsicht: Wenn Fellmann schreibt, dass das Sein das Seiende braucht, um in Erscheinung zu treten (vgl. 2016: 102); so meine ich mit diesem Essay zu bemerken, dass die Welt das Leben braucht, um Sinn ergeben zu können. Ohne Leben kein Sinn – auch kein vermeintlich unbestreitbarer Sinn einer mathematischen Formel… oder der der Identität. Das heißt nicht, dass Sinn rein subjektiv ist… oder auch nur sein kann. Wie Wittgensteins Käfer wäre ein privater Sinn nichts. Auf unser Thema gemünzt: Ein Subjekt ohne Objekt(e) hätte nichts, auf das es sich beziehen kann, somit auch nichts, das es auch nur sich selbst gegenüber aussagen kann, es könnte keine sinnvolle Erfahrung machen. Wie Wittgenstein es sagt: „Ein ‚innerer Vorgang‘ bedarf äußerer Kriterien.“ (1953: 153).   

Sinn ist also nicht subjektiv. Unser Lebendigsein, vor dessen Horizont wir sinnvolle Erfahrungen machen, ist uns aber auch mit unseren (wie beschrieben individuellen, sich teils aus zutiefst persönlichen Gedanken, Umständen oder auch Rollenbildern speisenden, mitunter aber auch Spezies-spezifischen) Bewusstseinsstrukturen gegeben. Und so entspricht es nur den bisherigen Überlegungen, wenn die Unterschiede in den Bewusstseinsstrukturen Auswirkungen auf den Sinn haben. Das menschliche Bewusstsein unterscheidet sich sowohl in der vorstellend-denkenden wie auch in der fühlend-wertenden und in der wollend-handelnden Bewusstseinssphäre von dem, was Aristoteles das tierische und das pflanzliche Seelenvermögen genannt hat.  

Als letzten Gedanken dieses Essays möchte ich – selbst, wenn die kognitiven Unterschiede womöglich die offenkundigsten sind – nun noch in Anlehnung an Frankfurt (1971) das Besondere der einer Person innenwohnenden Willensstrukturen hervorheben. Denn als Subjekt mit einem freien Willen kann ein Mensch, wohl wie kein anderes Lebewesen, handeln: vor dem Hintergrund einer Bandbreite an Wünschen (bspw. „Ich wünsche mir, mehr Zeit für das Schreiben aufzuwenden.“) und Wünschen zweiter Ordnung (bspw. „Ich wünsche mir, mir stärker zu wünschen, mehr Geld zu verdienen.“) kann er sich für einen dieser Wünsche als seinen Willen – denjenigen also, der sein Handeln bestimmen soll – entscheiden (vgl. 1971: 6). Wie die Bedeutung des Lebens für den Sinn, so unterschätze ich auch noch immer die Bedeutung eines solchen Willens zweiter Stufe für ein sinnvolles Leben. Dieser Essay legt dem Leser oder der Leserin aber nahe, dass… wenn sie in ihrer Lebenswelt nicht nur aktiv-leistend, sondern mindestens ebenso häufig passiv-geschehend (vgl. Husserl, Melle & Vongehr, 2020: LIII) auf Motivationsstrukturen stößt; Motivationsstrukturen, die sie selbst mit formt und die sie ebenso formen; wenn sie weiter einen Willen zweiter Stufe in sich ausmacht, etwas also, das sie verflochten mit fühlend-wertenden und vorstellend-denkenden Bewusstseinsstrukturen wollen wollen kann… so legt der Essay nahe, dass dies im wahrsten Sinne bedeutsam für die Leserin ist: eine Quelle von Sinn in ihrem Leben.


CHARKIW,
           im September 2021.


Literaturverzeichnis

Frankfurt, Harry Gordon. (1971). Freedom of the Will and the Concept of a Person. The Journal of Philosophy. 68 (1), 5-20.

Husserl, Edmund in Held, Klaus (Ed.). (1985). Die phänomenologische Methode: Ausgewählte Texte I. Reclam: Stuttgart.  

Husserl, Edmund. in van Breda, H. L., IJsseling, S., Boehm, R., & à Louvain, A. H. (Eds.) (1950). Husserliana Gesammelte Werke. Band 6: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie: eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Martinus Nijhoff: Den Haag.

Husserl, Edmund, Melle Ulrich, & Vongehr, Thomas. (2020). Studien zur Struktur des Bewußtseins: Teilband I Verstand und Gegenstand Texte aus dem Nachlass (1909-1927). Springer: Berlin.

Fellmann, Ferdinand. (2016). Phänomenologie zur Einführung. Junius Verlag: Hamburg.

Rolf, Thomas & Kienzler, Wolfgang in Sandkühler, Hans Jörg (Ed.). (2010). Enzyklopädie Philosophie. Felix Meiner Verlag: Hamburg.

Rump, Jacob Martin. (2018). Meaning, Experience, and the Modern Self: The Phenomenology of Spontaneous Sense in Woolf’s Mrs. Dalloway. Metodo, 6(1).

Schnell, Alexander. (2018). Die phänomenologische(n) Methode(n). Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, 40(3), 8-18.

Wittgenstein, Ludwig Josef Johann. (1953). Philosophische Untersuchungen [zweite Auflage (1997)]. Blackwell Publisher Inc.: Massachusetts.

Zahavi, D. (Ed.). (2018). The Oxford handbook of the history of phenomenology. Oxford University Press.