Die Idee ist: Jeder von uns hat 15 Minuten Zeit, in denen wir zuhören, bzw. in denen wir den anderen etwas sagen lassen sollen. Wir können zuvor Stichpunkte vorbereiten, gar einen Fließtext vorlesen oder frei vom Herzen weg sprechen. Dieses Gespräch kann liegender Weise auf dem Boden in einem Zimmer, auf Sofas oder im Bett vonstattengehen… ja, wir könnten uns sogar lange Mails schreiben, wenn wir das wollten; wir haben uns aber dazu entschieden zu spazieren… immerhin spazieren wir gerne und in Corona-Zeiten war unser erstes Treffen natürlich auch ein Spaziergang. Dadurch soll einigen unserer Gesprächen wieder mehr Tiefe verliehen werden, es soll einen Ort und eine Zeit geben, um über das zu sprechen, was uns gerade beschäftigt — etwas, das zumindest mir am Anfang noch leichter fiel, wo ich weniger genaue Vorstellungen davon hatte, was du wohl gerne hörst und wir beide weniger zu verlieren hatten.

Und so ist jetzt also Sonntag, ein herbstlicher Sonntag: 20:32 Uhr, die Sonne ist schon unter-, die Lichter der Parkbeleuchtung angegangen und kaum jemand außer uns ist im Westendpark unterwegs.

Ich stelle einen Timer… auf fünfzehn Minuten, beginne langsam vorzulesen… bin froh, jemanden zu haben, der diese Art von … Übungen mit mir macht… oder besser, wichtiger… der auch diese Art von Gesprächen führen will.

Vorlesend

“Als bereits absehbar war, dass sich mein Master dem Ende entgegen neigt und ich mich M.Sc. nennen werden dürfte, habe ich mir häufiger diesen Master-Abschluss-Social-Media-Post vorgestellt. Die Caption dieses Posts — hätte ich ihn denn gemacht — hätte wahrheitsgemäß in etwa gelautet: ‘Irgendwie war das jetzt einfach ziemlich viel verschwendete Zeit dafür, dass ich jetzt meine E-Mails mit Marco Zander, M.Sc. signieren darf.’ Danach wären einige Leerzeilen gekommen und dann, dass ich auf meinen Blog mit seiner handvoll lesenswerter Texte stolz bin, dass das gar kein Vergleich zu diesem doch irgendwie ziemlich überbewerteten Studienabschluss ist. Und an diesem Studienabschluss hängt, wie du weißt, noch ein bisschen mehr dran, dem andere Menschen irgendwie große Wichtigkeit geben und das ich einfach nicht als so bedeutsam empfinden kann.

Oft fühle ich mich deswegen eigentlich eher reif; meine, dass ich weniger Illusionen nachrenne als viele andere… oder ich zumindest versuche nicht Dingen nachzurennen, von denen es schon absehbar ist, dass sie sich für mich als Illusion herausstellen werden; manchmal bin ich deswegen aber natürlich auch enttäuscht von mir: In den aller meisten Fällen verstehe ich auch meine Kollegen, wenn diese denken, dass sie in meinem Alter gerne ‘mehr erreicht’ haben wollen als ich. ‘Mehr erreicht’ heißt in dem Fall wohl so Dinge wie einen höheren Lebensstandard, einen weiteren Weg auf der Karriereleiter zurückgelegt, die Aussicht auf mehr Geld, viele Mitarbeiter unter sich oder — umgemünzt auf das Deutschland unserer Zeit — ein sustainable, self-made Business aufgebaut zu haben… oder zumindest im Begriff sein, es aufzubauen. Manchmal wünsche ich mir dann, die oben beschrieben Dinge mehr zu wünschen. Und am ehesten wäre es noch das Letztgenannte, das ich irgendwie interessant fände: Daher sage ich dann zu mir: ‘Warum kannst du nicht auch unbedingt (irgend)ein Start-Up gründen wollen, Marco?… wenigstens als Mittel zum Zweck… jetzt zehn, fünfzehn Jahre voll darauf konzentrieren, damit du dann …’, … ja, was dann…

Dann glaube ich, dass ich etwas machen sollte, was ich sinnvoll finden kann. … Und — auch, wenn sie sich wieder erstmal ein wenig… abstrakt anhören — finde ich, dass da ein paar Gedanken aus meinem Essay von vor ein paar Wochen durchaus Relevanz haben. Er lässt sich ja in etwa so zusammenfassen: Dass unsere Bewusstseinsstrukturen in einem komplexen Verbund von Verstandes-, Gefühls- und Willensdimension Sinn, wie wir ihn dann auch in unserem Leben wahrnehmen, schaffen. Und in diesem komplexen Verbund erscheint es mir eben nicht so sinnvoll, den mit Abstand größten Teil meiner Lebenszeit drauf zu verwenden, zu versuchen, die oben beschriebenen Dinge zu erreichen. Vielleicht auch, weil dieser Verbund eben mitunter persönlich ist und mein Verbund ein bisschen anders gestrickt ist als der andere Menschen.

Aber… so habe ich mich in den letzten Jahren erstmal in der Position gefunden, herauszufinden, was ich denn alles eigentlich nicht will… bzw. eben in diesem Verbund aus kognitiven, affektiven und volitionalen Strängen in meinem Leben nicht als sinnvoll empfinde. Und das hat dann erstmal einiges an Leere für mich zur Folge (gehabt).

… Und auch deswegen zögere ich immer sehr damit, dir das so zu sagen, weil ich nicht will, dass es dir ähnlich geht… und weil ich natürlich noch immer daran zweifle. Ich freue mich, wenn es für dich — als eine andere Person, mit einem anderen Verbund aus Verstand, Gefühlen und Willen — Sinn ergibt, zum Beispiel eine Keynote-Sprecherin zu sein, in einem Unternehmen wie Google Karriere zu machen oder sogar Unternehmerin zu sein. Ich weiß es nicht, kann mir aber vorstellen, dass es für dich schon allein deswegen eine andere Bedeutung hat, weil du eine hervorragende Keynote-Sprecherin, Unternehmerin oder weibliche Führungskraft wärst. Natürlich gibt das dem Ganzen nochmal eine ganz andere Dimension.

Mich hat die letzten Jahre aber dann eben eher die Frage beschäftigt, was ich denn dann als sinnvoll empfinden kann. Und meine aktuelle Antwort darauf ist, zu versuchen, mein Leben so zu leben, wie ich es leben würde, wenn ich die Freiheit hätte zu leben wie ich will. Also… wie würde ich leben, wenn ich nicht sage, jetzt mache ich erstmal das, um dann etwas zu machen, das für mich sinnvoll zu sein scheint… und so bin ich eben zu dem Lebensentwurf gekommen, den ich gerade für mich vorsehe… und der auch gar nicht so radikal anders ist. Er beinhaltet aber statt möglichst viel zu arbeiten und meine Zeit und Energie darauf zu verwenden, als zentrales Element auch einfach mal Zeit für mich zu haben: unaufgeregte, klare, benachrichtungsfreie Zeit, beispielsweise auch ohne für mich betäubend durchzuscrollendes Social Media-Feed — wirklich keine Ablenkungen… länger als nur ein paar Stunden; wo ich mir auch mal einfach einen Tag nehmen kann, an dem ich mich nur in irgendwelchen Texten verliere oder Vorworte einiger Bücher in der Bibliothek lese… und dann auch mal einfach Stille… … und all das, weil ich mir davon erhoffe, dass ich so dann auch in dieser Zeit evtl. noch irgendetwas Schönes schaffen könnte. Denn der Teilbereich meines Lebens, wo ich am ehesten das Gefühl habe, dass irgendetwas dabei herumkommt, das ich als sinnvoll empfinden kann, ist, wenn ich schreibe.

Wenn ich ein paar meiner Texte nochmal lese, dann freue ich mich, dass es sie gibt. Es gibt mir etwas… und es kostet niemanden etwas; mein CO²-Fußabdruck dabei ist sehr gering, vielleicht kann ich sogar dem ein oder anderen Menschen einen Moment von Tiefe oder Verbundenheit in seinem Leben geben und wenn ich deswegen auf ein paar materielle Dinge verzichten muss… dann finde ich das eigentlich sogar gar nicht so schlecht. Ich dachte, das wäre eine der Erkenntnisse, die in Europa in den letzten Jahrzehnten auch angekommen war, dass wir uns auch im Verzicht üben sollten… in jedem Fall ist es mir das aber wert.

Es kann sehr gut sein, dass das alles jetzt nur eine Phase in meinem Leben ist… und ich bald einsehe, dass es schon richtig ist, sich möglichst ‘etwas zu erarbeiten’, aber es fühlt sich für mich eher an, als würde mein Leben eine andere Richtung nehmen — nicht die des BWLers, sondern mehr die des Schriftstellers. Und wenn wir bei dem Bild aus unserem Gespräch neulich — von den beiden Seiten in mir — bleiben wollen, dann ist es vielmehr so, dass der Schriftsteller dem BWLer die Energie gibt, z.B. um an drei Tagen die Woche wirklich effizient zu arbeiten. Auch so zu arbeiten, dass ich den Anspruch an mich, es gut zu machen, dann trotzdem erfüllen kann. Aber am Ende des Tages bedeutet mir diese Arbeit nicht so viel. Ich will sie machen. Ich will sie gut machen. Aber es ist mir nicht so wichtig, wie es das bräuchte, um dort ‘Großes’ zu erreichen. Und es vermittelt auch einen falschen Eindruck, wenn ich den Schriftsteller jetzt als Energiequelle für den BWLer darstelle, weil dann ja wieder die Erwerbsarbeit als Ziel dasteht… das Ziel ist aber das Schreiben. Drei Tage die Woche ‘zu arbeiten’ ermöglicht es mir zu schreiben. Schöne Tage in der Bibliothek immer in Aussicht zu haben, ermöglicht es mir wiederum, effizient zu arbeiten und Sinn darin zu sehen.

Und ich habe dir diesen längeren Text verfasst, weil mir zwei Sachen wichtig sind: Erstens, weil ich will, dass wir uns Zeit nehmen, uns über so etwas auch in gewisser Ausführlichkeit auszutauschen. Zweitens, damit du es nicht nur nur verstehst, sondern es eigentlich sogar mehr… damit du es wertschätzt, dass ich versuche mein Leben so zu leben.

Zu guter Letzt will ich dir noch eine Angst nehmen, die es dir vielleicht auch schwer macht, es wertzuschätzen: Ich will kein depressiver Künstler sein, der sein Hadern mit der Existenz in seinen Werken verarbeitet. Ich will schreiben. Dabei werde ich häufig auch zweifelnd, manchmal verzweifelnd sein. Zum Beispiel, weil ich versuche ein Gefühl, das sich nicht in Worte fassen lassen will, in Worte zu fassen; oder, weil ich keinen Anfang für einen neuen Text finde — woher soll ich den denn dann jetzt nehmen?, was wenn ich nie wieder einen finde? — oder in einem bestehenden Draft nichts, das mich berührt, sodass ich es am liebsten wieder löschen würde… aber ich will damit auch etwas Schönes schaffen. Ich will damit auch die faszinierenden Momente im Leben mehr wertschätzen: bspw. wenn ein graubärtiger alter Mann jeden Morgen in die Staatsbibliothek kommt und drei Stunden an einem öffentlichen Computer Schach spielt… oder wenn ich zwischen zwei Wärmeleitungen in den Himmel sehe und sie wie riesige, mit zerfetzten Verbänden verbundene Oberschenkel aussehen. Ich will versuchen ein wenig der Schönheit in der Welt und meiner Lebenswelt in meinen Texte zu verarbeiten… dabei werde ich sicher auch ab und an ein wenig oder sehr melancholisch sein. Aber ich finde, dass das eben auch ganz schön sein kann und es auch die schlechten Gefühle wert ist. Außerdem… will ich mich auf neue Tage freuen können; auf Tage, bei denen die Chance besteht, vielleicht ein bisschen was Schönes in die Welt zu bringen oder in ihr zu entdecken… und diese Leben mit ein wenig Stille, mit Zeiten in der Bibliothek und schreibend entspricht wohl am ehesten meiner Art, das zu tun.”

Ende

Jetzt sind noch etwa drei Minuten Zeit. In dieser Zeit gehen wir weiter gemeinsam durch den Park. Im Hintergrund hört man ab und an die Autos, aber insgesamt bleibt es für diese drei Minuten ziemlich ruhig. Ich würde dir gerne sagen, dass es mir auch wichtig ist, “etwas zu leisten”; dass ich schon auch gerne einer Erwerbsarbeit nachgehe und mir gut vorstellen kann, meine gewerbliche Tätigkeit von vor einigen Monaten weiter auszubauen, weil sie mir auch viel Freiheit bietet; dass es wunderschön ist, wie liebevoll du mich dabei unterstützt hast und, dass du damit auch bitte nicht aufhören sollst, weil mir das auch alles viel bedeutet. Denn auch das ist wahr… aber ich lasse die Worte jetzt so stehen… und denke, dass das ein wichtiger Teil dieser Übung ist: ein wenig Stille auszuhalten.