Der Beitrag hätte wohl auch gut Charkiw Notes III heißen können. Beschreibungen des Alltags, ganz alltäglicher Situationen, einiger Gedanken und wie sich der Einzelne (ich) in ihm verliert/findet. Auch ein bisschen Kierkegaard ( <3 ).


Intro

Die Brandung verebbt, Mauern schließen sich, es bilden sich Haare, Fäden und Stränge. Und die ziehen sich fester und immer fester zusammen. Um was? Vielleicht um ein gehegtes Geheimnis, einen reinen Wunsch, einen verlorenen Schatz, irgendetwas Unerreichbares.


Schmutziges Gewässer

Allerlei Plastikflaschen, die Sitzfläche eines alten LADAs und natürlich auch einige braune Masken treiben in ihm. Am Ufer, auf einem Erdhaufen mit langen, bereits gelblichen Grashalme darauf, steht ein junger Mann. Er angelt. Fünfzehn, vielleicht zwanzig Tauben hinter ihm – zwischen ihm und mir. Nach und nach hüpfen sie ungelenk zunächst auf mich zu, kommen näher und näher – als ob ich etwas für sie hätte … “Sie wollen irgendwas von mir.”, denke ich -, dann fliegen sie los, ein Stück entlang des Flusses … über den Fluss.

Auf dem Fußweg oberhalb der den Fluss leitenden Dämme gehen zwei ganz in Schwarz gekleidete junge Frauen. Sie halten sich an den Händen, beachten den Angler nicht, drehen sich aber kurz nach links zur unfertigen IT-Manufaktur um, stehen eine … zwei, drei Minuten schweigend davor. Mir fallen die kleinen sketchy Tattoos dreier Tiere auf ihren Händen auf: Hahn, Schwein, Schlange. Ich betrachte die jungen Frauen eine Zeit lang, dann gehen sie weiter. Als würden sie die in den Bau der “Manufaktur” gesteckte Energie spiegeln, umschließen die Finger einander nun fester. Knöchel treten weiß hervor, die Tiere jagen sich. Noch während die beiden weitergehen, stehen die drei Tiere vor meinen Augen: Jetzt lebensgroß, noch immer in ihrer skizzenhaften Ausführung. Der Hahn jagt das Schwein, das Schwein die Schlange, die Schlange den Hahn. Und sie werden immer größer.

Nach gut 100 Schritten biegen sie dann rechts ab. Dort ist ein Gebäude, vermutlich soll es eine technische Universität sein. Über dem Eingang sieht man das bereits abgetragenen Stockfoto eines Laptops aus den beginnenden 2000ern und daneben, ebenso bereits verblassend, steht:

“Every person is a universe”

Schriftart und Farbe imitierend hat jemand darunter geschrieben:

“Some are better,

Some are worse –

I’ll give you mine,

You give up yours.”

Normale Umstände

Ein paar hundert Meter von dieser vermutlichen Universität und dem unfertigen IT-Gebäude entfernt sitzen jeden Tag fünf junge Männer in einem auf etwa drei Arbeitsplätze ausgelegten Büro – machen Software.

Sie arbeiten bei geschlossenem Fenster, kippen einmal am Tag für gut 15 Minuten ein Fenster und versuchen, die kalten Temperaturen eines ukrainischen Herbstes mit einem gelblich vergilbten Heizlüfter – er hat in etwa die Farbe des Grases auf dem Erdhaufen, auf dem der Mann seine Köder auswirft – draußen zu halten. Zehn Bildschirme, neun Deckenlichter und das schwache Rot eines Mehrfachsteckers beleuchten den Raum.

Einer der jungen Männern bin ich. Hinter mir, auf einem knapp zwei Meter hohen Whiteboard, thront – wie eine orthodoxe Ikone – die einzige Zierde dieses Raumes: das 15x8cm große Ölgemälde eines Straßenkünstlers (Nikolai) aus Lwiw.

Regelmäßig versuche ich mir morgens ein paar Minuten zu nehmen, um aufzuschreiben, was ich sehe: auf dem Weg zur Arbeit, bei uns im Büro, in den Fenstern meines Nachbarhauses; was erinnere ich vom Wochenende?

Puschkin

Einmal geht es dabei auch um Puschkin. Ich wohne hier in der Puschkinskayastraße. Jeden Tag, wenn ich zur Arbeit gehe, sehe ich seine Statue: “Пушкину” steht darunter. (Man spricht das Puschkinu. Es ist der Dativ von Puschkin: “dem Puschkin” würde ich es übersetzen.) Sein überlebensgroßer Kopf befindet sich auf einer kleinen, umzäunten Grasfläche. Auf ihr sind neben der Statue noch einige Bäume und ein paar Bänke. Um sie herum führt ein Zaun, außerhalb stehen einige metallene Müllcontainer. 

An dem Tag, von dem ich mir ein paar Sätze notieren werde, ist nicht mehr Herbst. Es ist bereits alles vereist. Ein mittelalter Mann hängt kopfüber suchend in einem der Container. Eine kleine, alte Frau  steht eingemummelt mit Kopftuch und Kapuze zwischen ihm und Puschkin und beobachtet den Mann verwirrt. Sie steht dort, als ich von unten die Straße hinaufkomme – steht noch dort, als ich vorbeigehe.  

Ich könnte in fünf Minuten im Office sein, biege heute aber links ab: gehe kurz auf Puschkin zu, auch an ihm vorbei. Was im Herbst noch Grasfläche war, ist jetzt Eisfläche. Bei -14 Grad liegen auf ihr keine Schnee- sondern Eishaufen. Dann gehe ich rechts, die weniger befahrene Parallelstraße hoch. Auch hier gibt es einige metallene Müllcontainer, neben ihnen den Gehweg, dann Graffiti. 

Ich denke an Гамлет (Hamlet) [Гамлет Зиньковський (Hamlet Zinkowsky)]. Er ist vielleicht der bekanntesten lebende Künstler Charkiws. Seine Werke sieht man hier in Ausstellungen, aber auch an Mauern, Durchfahrten und Häuser gesprayed. 

Auf der Parallelstraße folgt direkt auf die Graffitis eine katholische Kirche im neugotischen Stil und ich denke an Longfellows “The Builders”, ein Gedicht, das mich schon eine Weile begleitet: 

“In the elder days of Art,  
Builders wrought with greatest care  
Each minute and unseen part;
For the Gods see everywhere.” 

Longfellow, Henry Wadsworth

Ich habe immer gedacht, dass “In the elder days of Art” eine entfernt liegende Vergangenheit meint. In dem Moment glaube ich zu verstehen, dass das nicht so ist. In dem Gedicht sind ein paar tausend Jahre nur ein paar Schritte, kein ungeheurer Abstand. “Hier weiß man, dass, wenn man in Wahrheit etwas von den Großen lernen will, nicht auf das Ergebnis, sondern auf den Anfang bedacht sein muss.”, erinnere ich mich an einen Satz aus “Furcht und Zittern”. Jene Zeit, die “elder days of Art”, können wir uns vergegenwärtigen. Sie können uns zum Anfang werden. 

Und ja … für mehr Gedanken bleibt auch keine Zeit, denn dann stehe ich schon wieder vor dem Bürogebäude.

Ich gehe hinein, hoffe noch ein paar Minuten, vielleicht sogar eine halbe Stunde allein zu haben. Die habe ich. Also schreibe ich etwas auf. 

Das Dokument “Beschreibungen.md”, das vor mir geöffnet ist, beginnt:

Bereits unter den normalen Umständen schwirren die einen durchtränkenden Gefühle am Montag-, spätestens jedoch am Mittwochabend doch schon in einem trüben, undurchsichtigen, schmutzigen Gewässer. Alles ist betäubt, verworren.

Beschreibungen.md

Und irgendwo weiter unten kommt nun eben auch Puschkin darin vor. 

Normalere Umstände (?)

Dann kommt eine Woche, in der ich ganz sicher noch nicht mal diese halbe Stunde für mich haben werde. Doch ich weiß: Tagungen, Team-Events und Gruppenschulungen – all das gehört auch zu den normalen Umständen. Zwei, drei oder vier Tage in Folge mit zehn Menschen dicht an dicht in die Mitte eines Konferenzraumes gedrängt zu sitzen, wo man bei einer unbedachten Bewegung die Sitznachbarin streift, gehört zu den normalen Umständen. Ebenso, dass die Sitznachbarin jedes Wechseln meines Browserfensters mitverfolgen kann oder dass ich bei jedem Blick über den eigenen Bildschirmrand unvermeidbar in die Augen eines Kollegen links von mir, genau vor mir oder der Kollegin rechts von mir schaue: Stunde … um … Stunde … all das … gehört dazu, ist gar nicht so schlimm, eben ganz normal.

Der ruhige, matschige, mit möglichst wenigen Lichtquellen versehenen Heimweg verspricht ein wenig reinigendes Nichts. Doch auch er wird von der beständig bedrohlich über uns hängenden Frage bedroht: “Und? Lasst uns am Abend doch noch etwas unternehmen?”.

Und es gehört eben dazu. Ebenso wie das Mittagessen … in der Regel bringt es Fragen mit sich. Auch heute.

Mittagessen und was man dort nicht bespricht

Schon die erste und einzige trifft mich unvorbereitet, wirft mich aus der Bahn: “Na, hast du hier schon Freunde gefunden?” … Ich bin versucht, in meiner Erklärung weit auszuholen: “In Deutschland gibt es ein Kinderbuch. In dem versucht der kleine Hase dem großen Hasen zu erklären, wie lieb er ihn hat. Er breitet die Arme gaaaaanz weit aus: so lieb hat er ihn – aber das reicht noch nicht. Mindestens so weit, wie der große Hase die Arme ausbreiten kann, hat der kleine Hase den großen Hasen lieb. Aber das reicht noch nicht. Er hat ihn so sehr lieb, wie der kleine Hase sich hoch strecken kann. Aber das reicht auch noch nicht. Mindestens so sehr, wie der große Hase sich strecken kann, hat er ihn lieb. Und so geht es weiter. …” 

Was ich meiner fragenden Kollegin klar machen will: Von dem  Gedanken, mir hier neue Freunde zu suchen, bin ich gerade sehr weit entfernt. Die Abende und das Wochenende brauche ich wirklich für mich. 

Vielleicht, um nach sowas wie einem Sinn in dem Ganzen zu suchen; vielleicht auch, um meinen Kopf von den Wirren der Woche zu befreien; vielleicht, um mich an irgendetwas zu erinnern, das ich nie gewusst habe. So genau weiß ich das doch auch nicht. Ich sitze dann auf jeden Fall auf einem Sitzsack in einem Café, das mich bei seinem ersten Besuch mit keltischer Musik und ein paar leise in ihre Brettspiele vertieften Besucher:innen empfangen hat. Dort bestelle ich handgebrühten Kaffee und irgendeinen Tee. Zweimal am Tag. Und oft kommt es mir so vor, als würde es – je länger ich dort sitze – desto mehr aufzuschreiben geben. Eine unendliche Aufgabe.  

… Aber ja: Das allerdings meiner Kollegin zu erzählen wäre wohl Oversharing. Das ist sogar mir klar. Sie hatte gefragt, ob ich hier bereits Freunde gefunden habe, und so antworte ich nur: “Nein, ich habe hier noch keine Freunde gefunden.”, versuche das Thema auf etwas anderes, das nicht ich bin, zu lenken.

Am Tisch unterhält man sich daraufhin weiter darüber, wo ich denn nun gut neue Leute kennenlernen könnte und dass ich meinen Sprachunterricht doch viel besser in Gruppen als als Einzelunterricht nehmen sollte. Da würde ich viel schneller lernen und außerdem passe das viel besser zu so einem lebensfrohen, energetischen Menschen wie mir. 

All das ist lieb gemeint … weiß ich. Und gehe auf die Toilette.

Toilettengang

Händewaschen, ein bisschen Wasser ins Gesicht, Hände desinfizieren, Pickel suchen, ein paar Mitesser ausdrücken, nochmal Händewaschen, Wasser ins Gesicht, usw.

“All das ist doch nicht schlimm. Es ist ganz normal.”, denke ich.

Ich schaue in den Spiegel. Kierkegaard schreibt etwas von einem Wunsch. Ein Wunsch, der in die Wirklichkeit hinausführen wollte, aber an der Unmöglichkeit gestrandet ist. Er strandet und strandet; strandet noch immer. Nur, wenn er nicht lebendig gehalten wird, verebbt die Brandung; strandend jedoch bleibt er lebendig.

“Jede freigeborene Seele”, erkläre ich mir irgendetwas, das ich bei ihm gelesen habe, selbst, “strebt nach etwas Guten, Wahren, Schönen.” Doch, weil es unerreichbar war, weil der Verzicht so schmerzt, weil der:die Einzelne die Unmöglichkeit erlebt, ist er:sie anfällig für das Man. Im Man vergeht der Mensch, das Geschöpf zu einem Exemplar; das Konkrete verliert sich im Abstrakten. Hier lauert das ewige Vergessen, hier reiht sich Menschengeschlecht bedeutungslos an Menschengeschlecht, Gedanken ziehen wie das Wetter durch die Wüste.  

Und all das, wo es doch gerade der Schmerzenspfeil, der in einem steckt, ist, der Trost spenden könnte; indem er uns zeigt, wofür wir leben, dass das, dieses Unerreichbare, nach dem wir uns sehnen, noch lebendig ist. So verstehe ich Kierkegaard zumindest und vielleicht denke ich es sogar auch.

Das Unerreichbare … es ist ein Geheimnis, ein reiner Wunsch, ein verborgener Schatz. Der Dichter erkauft sich mit ihm die Macht aller anderen Geheimnisse auszusprechen; die Edeka-Verkäuferin über ihre soziale Rolle hinaus zu denken und zu leben; der Mensch nicht unmenschlich von sich zu denken.  

Kurz fühle ich den Trost, der darin liegt. 

“In the elder days of Art,  
Builders wrought with greatest care  
Each minute and unseen part; 
For the Gods see everywhere.”

Longfellow, Henry Wadsworth

Kierkegaard erzählt die Geschichte von einem Hemd, das sich jede Frau und jeder Mann selbst unter Tränen nähen muss – “for the Gods see everywhere”, begründe ich es; ein Hemd, das dann besser schützt als Eisen und Stahl. Jede:r Einzelne soll wagen in den Tempel einzutreten; er:sie soll nicht im Allgemeinen aufgehen, sondern trotz all der Not und all dem Schmerz, den das mit sich bringt, der:die Einzelne werden, weil er:sie Geschöpf, Individuum ist. 

So erkläre ich mir das alles und in dem Moment ergibt das alles Sinn; auch, dass Trost darin liegt, dass es immer Geheimnis bleiben muss, ergibt so Sinn. Denn, dass sich an manchem Geheimnis besser ergötzen lässt als es sich an dessen Offenbarung je ließe, ahnen wir wohl alle.

Kurz bin ich mir also so sicher, wie ich es mir nur sein kann: Wenn ich zu lange in diesem Autopilot lebe, wie ich es gerade mache, werde ich mich verlieren, werde grau, leer, abstrakt. Irgendwo außerhalb von mir würde ich nach Dingen suchen, die mich erfüllen, die mir ein Substitut für den ehrlichen Trost spenden; wie die grauen Männer bei Momo würde ich tote Zeit begierig in mich hineinziehen und der entstehende Qualm verpestete die Luft; mit immer wilder strampelnden Bewegungen würde ich versuchen, die Haare, Fäden, Stränge loszuwerden, die etwas in mir beginnen zu ersticken. 

Ein letztes Mal schaue ich in den Spiegel … , wasche mir das Gesicht aus, dann nehme ich ein paar Tücher, trockne die Hände, den Zwischenraum zwischen den Fingern, die Handgelenke ab … gehe zurück zum Essenstisch. 

Warum Tauben oft nur ein Bein haben

Wie immer gehe ich nach dem Essen spazieren. Allein. Und … ja … ich gehe gerne spazieren. Am liebsten jeden Tag. Am liebsten, wo es leise ist und es kein künstliches Licht gibt. Doch, wenn ich tagsüber spaziere; dort spaziere, wo viele Menschen, viele Autos und Laternen sind, dann sehe ich immer wieder Tauben.

Häufig fehlt ihnen ein Zeh oder ein ganzes Bein. Das ist so, weil sich herumliegende Haare, Fäden oder Schnüre an ihren schuppigen Beinen verfangen, sich langsam fester und fester um sie legen und abschnüren. Irgendwann fallen sie dann einfach ab.

… “Ihnen fehlt ein Teil.”, denke ich. Sie hüpfen trotzdem weiter herum. Und ich glaube, sie wissen nicht mal wirklich etwas davon. Trotz der Schmerzen, die es ihnen doch bereitet haben muss, erinnern sie sich nicht daran, dass sie etwas verloren haben. Weil es immer schmutziger wird, verfangen sich immer mehr Tauben … und die Stränge ziehen sich fester und fester, bis ganze Gliedmaßen einfach abfallen, in das Wasser, die Gewässer, Flüsse und Meere fallen.


Marco


Kierkegaardverzeichnis

Diesen Beitrag habe ich wieder mal Kierkegaard zu verdanken. Die meisten besseren Gedanken und Bilder habe ich ihm, in diesem Fall seinem “Furcht und Zittern”, entnommen:

– Kierkegaard, Søren. (1843). Frygt og Bæven [Furcht und Zittern (2005)] (Übers.: Walter Rest, Günter Jungbluth, Rosemarie Lögstrup, Hg.: Hermann Diem, Walter Rest). München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Andere Beiträge von mir featuring SK: