Hände

Dienstag – abends – am Balkon. 

„Entschuldige, wenn das zu intensiv war.“, sagt Lušis. „Du musst dich nicht entschuldigen.“, sage ich. Zwei, drei Minuten zuvor hatten sich unsere Hände voneinander gelöst. Danach waren wir schweigend auf dem Balkon gelegen. Noch immer den gelben Nachthimmel über uns, die Schultern aneinander, seine Hände nun allerdings jeder bei sich. „Willst du es probieren?“, waren ihre Worte gewesen. „Ja.“, meine Antwort. Dann hatte ich mich zu ihr auf die rauen Fliesen gelegt: Wir hatten jeweils eine Hand in Richtung des gelben Nachthimmels gestreckt und sie sich zunächst nähern, dann umkreisen, später berühren, schließlich umschließen und sie miteinander spielen lassen: zwei stumme Tänzer vor dem Weizenfeld. Und der rote Punkt, die Mohnblume am Rand, ist vermutlich die Form von Romantik, die uns beiden zugänglich war. Romantik eben, wie sie in Freundschaften häufiger als in Liebesbeziehungen zu finden ist.

Wir beide, Lušis und ich, sollten weiter sein im Leben. So viel steht fest. Wir sollten schon etwas geschafft haben. Immerhin bekommen Bekannte langsam Kinder, noch heute Mittag hatte Lušis jemanden getroffen, jünger als wir beide, der seinen Abschluss in Harvard gemacht hatte, jetzt für Apple arbeitete. Andere Bekannte gründeten Unternehmen und wir, wir sitzen hier auf dem Balkon herum, jeder neue Job fühlt sich noch immer wie der erste an, noch immer ist das alles fremdartig. Der Gedankenanker, der mir durch den Kopf geht, und an dem diese Fragmente dranhängen ist: „Wir sitzen hier auf dem Balkon … und es ist still.“ Dabei schwingt aber auch eine Kleinigkeit mit, auf die ich stolz bin: Ich hatte immer schweigen können. Menschen, die einem anderen Raum zum Sprechen geben, sind gemeinhin beliebter; Menschen, die einem anderen Raum zum Schweigen geben, sind mir persönlich noch lieber. Lušis war so jemand. Sie konnte viel Reden – ohne dabei zu plappern -, einem aber auch Raum zum Schweigen geben. Was sie nicht konnte, war Deadlines einzuhalten, allgemein Dinge fertig zu machen und Reis zu kochen (ohne ihn dabei anbrennen zu lassen).

Kaffee

Donnerstag – morgens – am Frühstückstisch. 

Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass wir das Schöne als schön wahrnehmen, weil es uns eine Gleichzeitigkeit vermittelt. Was wir da betrachten, fasst zusammen, vereint, sodass wir nicht in der Zeit hin- und herspringen müssen — alles passt sich fließend wahlweise in den Strom, den Fluss oder das Rinnsal Zeit ein. Wenn ich Lušis auf dem Balkon, vertieft in die Betrachtung ihrer Hände, aufschrecke, habe ich das Gefühl, sie genau aus diesem Fluss zu reißen. Selbst, wenn ich sie nur beim Kaffeemachen betrachte, muss ich daran denken, dass hier gerade alles seinen gebotenen Gang nimmt. Die achteckige Moka beginnt gerade zu fauchen, weshalb Lušis sie auf die kalte Herdplatte setzt. Dann holt sie die Kaffeetassen, füllt sie und danach sitzen wir noch eine Weile gemeinsam beim Frühstück: Sie redet, ich höre zu. Dass sie unzusammenhängend spricht, meint sie. Ich sage: „Du überspringst ein paar Gedanken, ja.“; sie lacht und ich versuche ihr zu folgen. 

Um 09:15 Uhr ist es dann Zeit mit der Arbeit anzufangen. Ich erinnere sie daran.

Und nun? Nun beginnt ein Arbeitstag. Für uns beide. Sie klappt ihren Laptop auf, ich meinen. Eigentlich haben wir zur Zeit jede Woche Kontakt, oft ausführlich. Trotzdem habe ich erst gestern erfahren, womit sie sich gerade ihr Leben finanziert … und bei dem Gedanken, wird mir ein wenig klamm ums Herz: Drei und nochmal fünf Stunden täglich bringt sie damit zu, einem Unternehmen dabei zu helfen, seine Salesforce-Daten besser auszuwerten: Welche Kennzahlen sind geeignet, um einen Kunden mit Kaufinteresse auszumachen?, welche Leads bekommen welchen Score? — Daran war natürlich nichts verwerflich. Ja, Lušis war eben gut in solchen Dingen. Im Lösen abstrakter Probleme. Somit ergab das nur Sinn. Sie hatte Mathematik und Philosophie – mit Schwerpunkt Logik – studiert und hatte Freude daran. Sie glaubte an die Wahrheitssuche mittels klarer Strukturen, wie das in der Logik der Fall war; mir war dennoch nicht ganz wohl bei dem Gedanken. Nicht nur, weil es gefährlich war, etwas, das man mochte, zu seinem Job zu machen — insbesondere, wenn es so wesentlich zweckentfremdet war. 

Nachbar

Freitag – abends – wieder am Balkon. 

„Heute habe ich den Nachbar mit dem großen Fenster liebemachen gesehen.“, sagt Lušis. „Ja?“, frage ich. „Ja.“, antwortet sie. Dann gehen wir hoch, zum Balkon. „Hast du ihn lange beobachtet?“ „Nein, nicht wirklich. Aber es war schön, zärtlich.“ Eine, zwei Stunden sitzen wir dann noch auf dem Balkon, hin und wieder hört man eine Sirene. Wir haben freien Blick auf viele Balkone in der Umgebung, niemand sonst sitzt draußen, obwohl es endlich ein wenig abgekühlt hat, die Temperatur gerade richtig ist, zum draußen Sitzen. 

Irgendwann fragt sie mich, was ich denke. Drei, vier Gedankenanker finde ich wieder. Einer davon ist eben jener Nachbar: Ob er beim Sex wohl an etwas anderes gedacht hatte?, ob er Angst hatte, ein Kind zu zeugen?, zweifelte er an der Beziehung?, fragte er sich, ob er das alles nur spielte?, die Zärtlichkeit, die Liebe? Wie würde er das erkennen? Nur, wenn es still war, oder? Wenn man die Frage „Woran denkst du gerade?“ nicht fürchtete, offen und ehrlich auf sie antworten kann? 

„Nur wer sich offenbaren kann, kann lieben.“, steht bei Kierkegaard. „Nur wem man sich offenbaren konnte, kann man lieben?“, frage ich Lušis als wir gemeinsam auf dem Balkon sitzen. Der Himmel ist noch immer gelb, wie vor drei Tagen. 

Sie denkt nach. Ich auch. 

Uns beide, Lušis und mich, verbindet, dass wir uns meist verloren fühlen, ja. Das kann ein schönes, beflügelndes, freies Gefühl sein. Manchmal ist es aber auch das, für das man es hält. Etwas anderes, das uns verbindet, ist die Bedeutung, die wir Freundschaften zumessen. So vieles im Leben fühlt sich übertrieben, unecht, gezwungen, wie Emojis, an. Es verleitet geradezu dazu, es nur ironisch zu verwenden — in Freundschaften ist das anders: Sie sind leiser. Sie wippen, summen, schweigen. 

Alte Wohnanlage

Samstag – morgens – vor der Wohnungstür. 

Als Kind hatte meine Mutter einmal eine schwere Krankheit: Gürtelrose. Ich habe daran kaum Erinnerungen, nur eine: Eines nachts bin ich aufgewacht und sie war weg. Am Telefon lag nur ein Zettel, auf dem eine Reihe von Ziffern geschrieben stand: eine Telefonnummer … natürlich. Ich hatte allerdings gerade erst zu lesen gelernt und in der Aufregung wusste ich nicht, ob ich die Zahlen jetzt von rechts nach links oder von links nach rechts ins Telefon eintippen sollte. Ich nahm eine Taschenlampe, ging auf den Balkon und leuchtete SOS in den Nachthimmel. 

Daran muss ich denken, als ich am Morgen den Zettel vor der Wohnungstür liegen sehe. Auf dem Zettel war diesmal keine Telefonnummer, sondern eine Adresse — doch es war nicht Lušis’ Handschrift. Sie macht den Querstrich beim „t“ immer irgendwo, nur nicht dort, wo er hingehört. 

Ich gehe aus dem Haus, nehme den Bus, komme in einer Gegend mit einigen hohen Plattenbauten an. Durch eine alte Wohnanlage führt eine kleine, wenig befahrene Straße, einige Balkone wurden definitiv nachträglich angebaut: die meisten sind grau, einige in einem hellen Blau, wenige weiß. Auf dem Dach einer Garage sitzt eine Katze. Ich komme zu der Hausnummer, klingle, aber niemand ist dort. Das ganze Haus scheint verlassen. Nur die Katze beobachtet mich. Ich bin besorgt, obwohl ich es eigentlich nicht sein müsste. Das Haus … dieser ganze Ort, wirkt auf mich genau so, wie es Lušis eben gefällt. Das beruhigt mich … einerseits, andererseits wäre es mir lieber, ich wäre hier auf einem Spaziergang, alleine oder mit ihr, nicht mit der Aufregung im Bauch, die der Zettel ausgelöst hat. 

Vielleicht hat sie einfach einen Ausflug hierhin gemacht. Normalerweise hätte sie dann aber keinen Zettel vor die Tür gelegt, sie wäre einfach gegangen. Lušis hatte gerne ein paar Geheimnisse: nicht vor mir, glaube ich, sondern einfach für sich. 

Auf dem Platz vor dem Gebäude gibt es einen Stein, darauf setze ich mich und warte eine Weile. Die Schritte höre ich erst, als sie nur noch wenige Meter von mir entfernt sind: Es ist Lušis. Sie sagt nichts, setzt sich nur neben mich. Ich bin erleichtert, grinse. Lušis hatte nichts gesagt, also sage auch ich nichts. Bald wird daraus ein Spiel. 

Sicherlich zwanzig Minuten sitzen wir so da, keiner spricht ein Wort. Irgendwann gehen wir los in Richtung Bus. Wir treten ein, meine Gefühle werde noch immer intensiver: Es ist schön in dem Bus zu sitzen, es ist schön hier mit ihr zu sein. 

Ein paar Minuten noch, dann brechen wir das Schweigen — fast greifbar hallt es noch einige Minuten, fein spürbar fast eine Stunde nach und dann … dann wird alles wieder gedämpfter.


Marco