11. August — im Flieger

Ich sitze im Flieger. Vorher mache ich mir immer einen großen Kopf. So viel muss ich mitnehmen, ich darf bloß nichts vergessen. Aber letztlich ist es nur mein Reisepass und das Ticket — also mein Handy —, das ich brauche. Zwei Stunden vor Boarding war ich schon am Gate und dann erleichtert. Gleich heben wir ab, da ist die Faszination dann immer am größten: in wenigen Sekunden werde ich fliegen, wie leicht es dann doch immer wieder ist, hätte mir gar nicht so einen Kopf drum machen müssen, ist doch nur ein Flug. Ich bin aufgeregt, wo es jetzt hingeht; erleichtert, dass doch alles geklappt hat: mein Ziel wartet schon auf mich. Wenige Stunden und ich bin in einer ganz neuen Kultur, in einer komplett neuen Umgebung.

17. September — zu Besuch bei meiner Mutter

Heute habe ich mir das neue iOS 16, noch in der Beta-Version, runtergeladen und der neue Lock-Screen gefällt mir ziemlich gut. Möglich war das durch eine SMS meines Providers. Ja, mein Provider schreibt noch SMSen.

In der Nachricht meinte er, dass ich ein neues Handy bekommen kann, for free, zu seinem Geburtstag und nachdem mein iPhone bereits über zwei Jahre alt ist, mache ich von dem Angebot Gebrauch: Wäre ja dumm, wenn ich es nicht täte. So hole ich mir das neue iPhone SE, third generation. Es sieht ziemlich genauso aus wie das alte und so kann ich meine Hülle sogar weiterverwenden. Ich freue mich, dass ich mir das Geld spare. Und nachhaltiger ist es auch noch!

Mit dem Update auf iOS 16 habe ich auch verstanden, warum es wohl wirklich an der Zeit für ein neues Handy war: Schon auf meinem alten iPhone wollte ich das Update ausprobieren, aber da wurde es mir nicht angezeigt. Vielleicht hätte mein altes, die neue Version des Betriebssystems schon gar nicht mehr unterstützt; zwei Jahre sind eben doch eine ganze Zeit in unserer Welt.

26. September — im Lenbachhaus

Heute war ich im Lenbachhaus. Maximilian und ich haben uns die Ausstellung Blaue Reiter angesehen. Eine kleine Familie mitsamt ihrem Fotografen war auch in der Ausstellung. Der hatte noch eine richtige Kamera dabei.

Die kleine, etwa vierjährige Tochter hat einen rosa Strickpullover getragen und die meiste Zeit hat sich der Fotograf um sie gekümmert. Überall hat er Fotos von ihr geschossen, sie einmal auf die weiße Sitzbox zwischen einigen Kunstwerken gesetzt und erwartungsvoll „Na, bist du ein Kinder-Model? Bist du ein kleines Kinder-Model?“ gesagt. „Jaaaaaa.“, war die pflichtbewusst-brave Antwort der Kleinen.

Vor dem Bild Blaues Pferd I von Franz Marc haben dann alle zusammen ein Foto gemacht.

Neben der Beobachtung des kulturellen Shootings war noch Zeit für die Texte an den Wänden. Von ihnen habe ich gelernt, was die Vision von Wassily Kandinsky und Franz Marc mit ihrem Almanach Der Blaue Reiter war: Kunst aller Völker und Zeiten gleichberichtigt darzustellen. Die Ausstellung hat das Projekt Der Blaue Reiter aber auch kritisch beleuchtet; gezeigt, inwiefern die Bewegung um die beiden in ihrer Zeit gefangen war. Ein gutes Beispiel ist ein Gemälde von August Macke. Es zeigt das Klischee von amerikanischen Ureinwohnern, das in der Zeit des Malers zuhauf zu finden war, ohne es kritisch zu reflektieren, ohne aus der Dimension des täglichen Lebens in die des nachdenklichen gekommen zu sein: Was geschieht unter der Oberfläche? Was male ich da? Was reproduziere ich mit meiner Kunst?

Im Begleittext zum Gemälde lese ich: Macke malt das Bild, das ihm teilweise in Menschenzoos (Zoos, in denen man gefangene, amerikanische Ureinwohner, betrachten konnte), teilweise in den Wild West Romanen seiner Zeit vermittelt wurde; er malt kein Bild von der Ausrottung indigener Völker, die dabei geschieht, kein Bild von der Ausbeutung, die im Hintergrund vor sich geht, kein Bild von den Umerziehungslagern im Namen der „Zivilisation” und des “Fortschritts“, wo man — ganz im Kontrast zur Vision der Blauen Reiter — meinte, die „Wilden“ belehren zu müssen. Macke reflektiert nicht, was man impliziert, wenn man von der “Entdeckung Amerikas“ durch Kolumbus spricht.

Nach der Ausstellung meine ich, dass der Almanach mit seiner Vision zwar seiner Zeit voraus war, die Bewegung aber eben doch an vielen Stellen noch Gefangene ihrer Zeit war. Sie haben es wiederholt nicht geschafft, die popkulturelle Oberfläche und das als selbstverständlich Angenommene zu durchdringen, wo es doch eigentlich notwendig gewesen wäre. Nicht nur als Künstler oder Künstlerin. Es wurde ausgebeutet, gemordet und die Lebensgrundlage ganzer Völker zerstört … und gemeint es wäre fortschrittlich.

Wenn man sich nur einige Minuten jeden Tag Zeit genommen hätte; wenn man reflektiert und beobachtet hätte, was in seinem Alltag eigentlich geschieht, hätte man doch drauf kommen müssen, dass da etwas schief läuft, oder?


Christopher, 2022, berichtet