Die Tür steht halb offen, ich trete in das Büro eines Mannes mit hoher Stirn und breiten Kieferknochen: Mauricio. Es ist soweit. 

Vor sieben oder acht Jahren hatte mir eine Freundin, sie war damals schon Mitte 70 gewesen, einmal den Wein-Test empfohlen. Wir saßen in einer Hotel-Lobby, überall waren grüne Ledersessel verteilt, einige Lampen, wie geschwungene Pflanzen, um uns herum und ich saß mit dem Rücken zu einer Zwischenwand, die diesen Bereich der Lobby vor neugierigen Blicken aus dem unmittelbaren Eingangsbereich abschirmte. Wir hatten über unseren damaligen Premierminister, David Cameron, gesprochen und sie war der Meinung gewesen, dass ein guter Politiker schon auch interessant sein muss. Aber wann darf man überhaupt sagen, dass man jemanden interessant fand? Ihr Test war leicht: Willst du ein Glas Wein mit ihm trinken gehen? 

Dieser Moment geht mir durch den Kopf, als ich in das Büro zu dem Mann auf dem Swopper trete? Würde ich gerne ein Glas Wein mit diesem Mann auf dem Swopper trinken gehen? Nein. Lange Zeit dachte ich: „Leider nein.“ Mittlerweile war daraus ein einfaches „Nein.“ geworden.  

Dann sagt er „Lara?“, reißt mich so aus meinen Gedanken und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich gerade schlecht von ihm gedacht habe — in seinem Büro, vor ihm stehend. Aber genau das gibt mir nochmal die Überzeugung, die ich für den nächsten Schritt brauche. Ich sammle mich, sage mir: „Mauricio trägt ein hellblaues Karohemd.“ … Mir selbst nochmal wahre, klar formulierte Aussagen vorzusprechen hilft mir immer dabei, mich zu beruhigen. 

Dann ist es soweit. „Ich möchte kündigen.“, ohne ihn irgendwie begrüßt zu haben. „Ich möchte kündigen.“, hallt es in meinem Kopf nach. Endlich. Ich spreche weiter. „Ich werde einarbeiten, wen ihr als meine Nachfolgerin, meinen Nachfolger findet und dann bin ich weg. Gerne helfe ich euch auch noch bei der Suche.“ Eben die Worte, wie ich sie zuvor aufgeschrieben und eingeübt hatte, nur leiser, weniger fest. Und ich weiß, Mauricio würde es akzeptieren. Er war … verständnisvoll. Wenn es nicht um grundsätzliche Dinge ging sogar empathisch und hatte es damit nur schwieriger gemacht. Man konnte ihn nicht verteufeln, wie man so gut wie keine meiner Kolleginnen oder Kollegen verteufeln konnte. Sie taten alle einfach nur, was man ihnen auftrug — meistens sogar irgendwas zwischen wirklich gut und exzellent. So war auch Mauricio mindestens ein guter Chef. Er wusste, wenn es keinen Sinn hatte jemanden zu halten, selbst wenn er mich vielleicht überreden hätte können. Tausende bereiteten sich in diesem Moment auf ihr Interview vor, um die Chance zu bekommen, die ich gerade aufgab. Auf lange Frist würden sie einen besseren Job machen. 

Kurz bevor ich hier angefangen habe, hatte Mauricio mit entschieden, dass die Wände der Führungskräfte transparent sein sollen, wie die Gehälter der Mitarbeiter:innen: um die Werte des Unternehmens auch im Innendesign zu verankern. Meine Kolleginnen kommen manchmal aus anderen Unternehmen, wo sie sich mit männlichen Führungskräften in einem Raum unsicher fühlten. Die finden das gut. Mir ist das normalerweise einfach ziemlich egal. Ich kenne diese Ängste von schlecht beleuchteten Straßen, nachts; von Fahrten mit der U-Bahn, wenn sie spät abends mal wieder leer war und dann irgendein Typ einsteigt. Hier, im Office, kenne ich sie nicht. Heute fühle ich mich aber sogar während der paar Sekunden, die ich hier stehe, beobachtet. Ich mag Wände. Ich mag, dass sie mich vor Blicken und Geräuschen schützen. Wände braucht es nur dann nicht, wenn es kaum Geräusche und nur wohlvertraute Blicke gibt … dann braucht es sie nicht.

Draußen geht währenddessen ein helles, grünes Kleid mit Perlen im Ohr vorbei. Lina, 74.000 € Jahresgehalt, Account-Managerin. Letztes Jahr hatte sie unser Firmenlogo noch auf dem Visionboard und vor wenigen Monaten durfte sie ihren LinkedIn Post mit #newTogler und einem Foto mit einer unserer Binärcode-Mützen machen. „Wie du dich hier auskennst!“, hatte sie mich an ihrem ersten Tag begrüßt, die Augen klein, die Haare dunkel. Später war ich einmal einen Kaffee mit ihr trinken gegangen. Am nächsten Tag hatte sie mir einen Beitrag weitergeleitet, in dem es darum ging, wie man sich für sein Unternehmen unersetzlich machte. Spätestens mit dem Beitrag war klar: Irgendwie hatten wir eben einen anderen Blick auf die Welt. Sie wollte unersetzlich sein, mir war schon damals viel daran gelegen immer ersetzlich zu bleiben, egal wie gut ich meinen Job auch machte. Heute war ich besonders froh darum. Aber Lina würde auch nie verstehen, dass ich hier kündigte … und das nicht aufgrund eines überragenden Angebotes von irgendeinem weniger renommierten Unternehmen sondern einfach wegen eines Gefühls. Des Gefühls nicht verstanden zu werden. So gar nicht. 

Und wieder denke ich schlecht über jemanden, wieder kommt das schlechte Gewissen und wieder hilft es mir Überzeugung zu gewinnen: Ich muss hier raus. 

Ich weiß, dass das nicht die feine Art ist, aber in meiner Hand habe ich das Kündigungsschreiben bereits dabei: ausgedruckt, mit Ort und Datum versehen und unterschrieben. Ich hatte Angst, mich noch einmal umstimmen zu lassen. Das Stück Papier sollte das verhindern. Jetzt lege ich es hin. Er hat noch immer nichts gesagt, registriere ich. Aber ich bin jetzt erleichtert. 

Noch einmal gehen mir die Gedanken der letzten Monate durch den Kopf: „Meine Kolleg:innen waren alles andere als dumm, sie waren intelligent, oft außergewöhnlich intelligent, aber Intelligenz scheint nicht immer mit dem Bedürfnis einherzugehen, Oberflächlichkeit zu durchdringen.“, das war der Schluss, zu dem ich in den letzten Monaten gekommen bin. Vor allem aber teilten sie alle jene außergewöhnliche Beflissenheit, die mir solche Angst machte. Jene Beflissenheit und etwas, das ich nur unzureichend als Gedankenlosigkeit bezeichnen kann. Was sagt es über jemanden aus, wenn man die Antworten zu allen Fragen auf LinkedIn nachlesen konnte; wenn jemand das Befremden nicht verstand, das damit einherging, ein sinnvolles Leben mit einer Skala 1 bis 10 zu messen — mir dann sagte, ich sollte das „doch mal pragmatisch sehen“? Was sagt es über jemanden aus, wenn er die Frage „Was willst du erreicht haben bis du 40 bist?“ seit seinem 20. Geburtstag wie selbstverständlich mit einem Job-Titel beantwortet? 

Ich glaube, das sagt aus, dass man aufgehört hat, über das Leben nachzudenken. Der eine oder die andere hat vielleicht nie damit angefangen. Ich glaube, es sagt aus, dass man sein Leben nicht bewusst führt, sondern irgendeinen Autopilot hat übernehmen lassen oder nie aus ihm ausgetreten war. 

Zu dem Schluss hätte ich schon viel früher kommen können. Aber es hat länger gebraucht. Es hat drei Jahre bei diesem Unternehmen gebraucht … die letzten beiden wusste ich es eigentlich schon. Aber jetzt ist es vorbei. Ich habe keinen Plan für danach, aber es ist vorbei. Endlich.