8. Januar bis 14. Februar, 2022

Das ist der Versuch, die letzten Wochen bis vor meiner Abreise aus Charkiw noch einmal Revue passieren zu lassen. 


8. Januar 2022, zurück nach Charkiw

Am 3. Januar habe ich mich zum 3. Mal gegen Corona impfen lassen. Danach war ich zwei Tage außer Gefecht. Am 8. Januar will meine Mutter mich kaum gehen lassen. Sie hat Angst. Was ist, wenn Russland doch angreift? Immerhin ist Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, direkt an der Grenze … und vermutlich eines der ersten Ziele, sollte etwas passieren. 

So, 9. Januar 2022, meine Wochenenden

Am nächsten Vormittag.

Gestern bin ich in Kiew gelandet. Spät abends angekommen, morgens war ich laufen, heute ist Sonntag und um 11 Uhr stehe ich wieder vor dem Café Laka Kalaka. Darauf habe ich mich schon wieder gefreut. Jetzt warte ich darauf, dass mir Оля (Olja), Дима (Dima) oder Женя (Schenja) die Türe öffnet. Meist sind die Rollos zu dem Zeitpunkt noch runtergefahren, eine halbe Stunde später kommt die Putzfrau. Ich sitze dann schon auf meinem Sitzsack, habe den Kaffee aus der AeroPress und einen grünen Tee neben mir, schreibe an irgendetwas oder lese Kierkegaards Furcht und Zittern für den einzigen Philosophie-Kurs, den ich in diesem Semester besuche. 

Dann kommt Dima, als nächstes Schenja, mittags gehe ich bei etwa zehn Grad Minus mindestens zwei, manchmal drei Stunden spazieren. Spätestens dann füllt sich das Café mit Menschen. Die Gäste sind aus allen Altersklassen, leihen sich im Regelfall ein Brettspiel aus und spielen dann irgendwas zwischen einer Stunde und dem ganzen restlichen Tag, am Wochenende schließt das Café um 22 Uhr. 

Ich spaziere also und nach meiner Rückkehr ist das Laka Kalaka dann voll, nur meine Ecke ist noch frei. Sie ist ein Einzelplatz, an dem man nur schlecht irgendein Gemeinschaftsspiel spielen kann. An der Wand in meinem Rücken stehen einige Bücher. Dieser Platz scheint genau dafür gedacht zu sein, es sich gemütlich zu machen und eine Weile zu lesen, zu schreiben oder einfach leise zu beobachten. 

Das sind meine Wochenenden und sie sind wunderschön. Der morgendliche Kaffee, das Bewusstsein schon irgendetwas zu Papier gebracht zu haben und die Freiheit bis abends im Café sitzen zu dürfen, wo man schon auf mich wartet, sich freut, wenn ich wiederkomme, mich dann in Ruhe in meiner Ecke sitzen lässt, nichts von mir erwartet  —  das alles macht das Raus in eine fremde Welt noch schöner. 

Mi, 12. Januar, Notfallpakete 

Während der darauf folgenden Woche. 

Im Büro ist die Zentralheizung jetzt auch endlich an. Hier geht unter der Woche weiter alles seinen gewohnten Gang. Ich denke auf Deutsch, schreibe Tickets auf Deutsch und lasse sie von DeepL übersetzen, nur hin und wieder ist ein Meeting auf Russisch. Sobald ich aber aus dem Büro auf die Straße gehe, spreche ich eigentlich mit jedem und jeder, der oder die nicht schnell genug wegläuft, Russisch. Es macht mir Spaß in noch immer gebrochenem Russisch, mit meinem äußerst begrenzten Vokabular viel auszudrücken. Meistens sind das dann Verkäufer:innen, mit denen ich spreche. Sie kommen einem ja kaum aus. 

Stanislav und Anastasija sind zwei davon. Ihr kleiner Laden, in welchem sie Früchte verkaufen, ist keine 200 Meter von unserem Büro entfernt. Nach einem Spaziergang hole ich mir dort nachmittags meist einen Kaffee. Abgesehen von Olja, Schenja und Dima im Laka Kalaka und außerhalb von meinem Russisch-Unterricht übe ich mit den beiden wohl am meisten. Ich versuche die Frage nach dem “Wie geht es dir?” immer wahrheitsgemäß zu beantworten, berichte manchmal, was ich in der Arbeit gerade so mache, was ich lese oder woran ich gerade schreibe. Gegen Ende des kleinen Austauschs bekomme ich dann oft auch eine neue Vokabel von ihnen. Freudig notiere ich sie mir als Notiz an mich bei Telegram und bevor ich am nächsten Tag wieder zu ihnen reingehe, spicke ich mit schlechtem Gewissen nochmal: Was war das nochmal für ein Wort gewesen?  

Gleichzeitig wissen zu diesem Zeitpunkt alle, dass um die 100.000 russische Soldat:innen an der Grenze stehen, keine 40 km von hier entfernt. Und auch darüber sprechen wir hin und wieder. Die beiden waren, wie auch alle anderen, immer ziemlich entspannt. Diese Woche ist es allerdings zum ersten Mal etwas anders. Man tut die Gefahr nicht mehr einfach ab. Die beiden sagen, dass mittlerweile wohl jede Familie in Charkiw ein kleines Notfallpaket zuhause hat — immer griffbereit, sollte man fliehen müssen: die wichtigsten Dokumente, etwas Bargeld, warme Klamotten und bei Anastasija auch noch mindestens ein Buch. 

Heute ist ihr 22. Geburtstag. 

Ich kann mir nicht vorstellen, was die Situation gerade mit ihr macht. 2014 war sie aus Donezk geflohen; ein paar Wochen nachdem der Krieg im Donbas begonnen hatte. 

Mir hat sie die Erinnerung an ihre Flucht damals in etwa so beschrieben:


02. Juni 2014 — Donezk
Abends. 

Es ist der Abschlussball meiner Freund:innen. Sie tanzen Walzer, im Hintergrund blühen die Kirschblüten. Alles ist wie aus einem Traum.  

03. Juni 2014 — Donezk
Der nächste Tag, 4 Uhr morgens. 

Meine Eltern wecken mich auf. Ich stelle fest, dass die entfernten Schüsse so stark geworden sind, dass alle Möbel im Haus wackeln. 
Wir gehen in den Keller. Ich beneide die Vögel. Sie können einfach wegfliegen. 

03. Juni 2014 — Donezk
4 Stunden später, 8 Uhr morgens. 

Jetzt ist die Stadt still. Vater teilt mir mit, dass wir jetzt gehen würden. 

Ich liebe ihn dafür, dass er weiterhin Witze macht und dazu von MI-8 Helikoptern, den Thermoraketen und dem Grad-Werfer erzählt. 

Die Welt ist runtergebrochen auf ein einziges Ticket: nach Charkiw. 

09. Juni 2015 — Charkiw
Ein Jahr später. 

Ein Jahr später tanze ich Walzer. Es ist mein Abschlussball. In den kommenden Jahren werde ich hier ein Zuhause finden. 


Das war irgendwann kurz vor Weihnachten. Da war alles noch ein wenig … weiter weg. Heute glaubt man natürlich immer noch nicht, dass Russland wirklich die gesamte Ukraine überfallen würde, aber … naja … so ganz sicher ist man sich nun eben auch nicht. 

Wenn ich heute mit meinen Freund:innen in Deutschland spreche, versuche ich manchmal zu erklären, wie wenig man hier von der Gefahr mitbekommt, dass hier eigentlich alles seinen ganz normalen Lauf nimmt. Als Corona in Deutschland angefangen hat, haben die Leute die Regale leergekauft. Sowas sieht man hier überhaupt nicht. Keine leeren Supermarktregale, keine Panik. Nur wenn man nachfragt, erfährt man, dass sie sich der Gefahr auch bewusst sind. Aber was sollen sie auch tun? Viele sagen mir, dass sie nicht wissen, ob sie die Stadt verlassen würden, sogar wenn Russland Charkiw angreifen würde. Es ist ihre Stadt, ihre Heimat. Von Dima aus dem Laka Kalaka, zum Beispiel, weiß ich, dass er sein ganzes Leben bisher hier — und nur hier verbracht hat. Darauf ist er nicht stolz, schämt sich aber auch nicht. Charkiw ist seine Stadt. Er liebt sie, ebenso wie die Ukraine. Und er ist überzeugt: Beide haben eine bessere Zukunft vor sich.  

Sa, 15. Januar 2022, was nach dem Laka Kalaka?

Das Wochenende danach. 

Es ist Samstag. Das heißt: Laufen, dann in das Laka Kalaka

Meine Laufroute — zum Журавлівський гідропарк (Zhuravlivsʹkyy Hidropark) und zurück.

Der erste Kunde, der an so einem Samstag nach mir ins Café kommt, ist ein Mann. Sein Auftreten im Café wirkt auf mich immer wie ein Intercity-Express, der durch den Bahnhof irgendeiner kleinen Ortschaft rast. Selbstverständlich ignoriert er das selbst gelb auf grauem Hintergrund noch unscheinbare “Achtung! Tragen Sie eine Maske”-Zeichen, bestellt auf halbem Weg zum Tresen noch eine Tasse Tee und ist dann, ohne einmal zu bremsen, nahtlos weiter auf dem Weg zur Unisex-Toilette. Dieser Kunde hat eine breite, aber nicht besonders knollige Nase. Der Übergang der Stirn in den Nasenrücken nimmt beinahe den gesamten Raum zwischen den beiden Augenbrauen ein. Dahinter fallen schulterlange, grau-melierte Haare auf die breiten Schultern. Sie werden hinten von einem schwarzen Stoffring zusammengehalten und wellen an den Enden ein wenig auf. Darunter folgt eine Lederjacke, ein feiner, brauner Pullover, eine olivgrüne Hose sowie schwarze Lederschuhe. 

Zurückgekehrt von der Toilette sitzt er dann immer auf dem von ihm bevorzugten, stummen, schmalen Stuhl. Er hängt seine Lederjacke darüber und es wirkt, als würde der feingliedrige Stuhl unter dem Mannsbild verunsichert hin- und herblicken. Der Mann tippt unterdessen konzentriert in sein Smartphone — tippt, pausiert, tippt, trinkt aber nicht. Dann steht er auf, trinkt die ganze Tasse in einem Zug aus, nimmt seine Lederjacke und geht mit ebenso zügigen Schritten, wie er in das Café gekommen war, wieder aus ihm heraus. 

Die Toilette ist dann noch immer sauber, der Sitz steht nun allerdings aufrecht und der Mann macht einen zufriedenen Eindruck. Es überrascht mich, als er mir eines Tages sogar zunickt. 

Irgendwann vor Weihnachten

Irgendwann vor Weihnachten — ich glaube, es war so ein Samstag wie heute: Olja und ich waren noch allein im Café und weder der Intercity-Mann noch die Putzfrau waren bisher hier, der Toilettensitz ist noch nach unten geklappt. An so einem Tag habe ich sie gefragt, wie es beim Laka Kalaka eigentlich finanziell läuft. 

Da hat sie begonnen langsamer mit mir zu sprechen, sie wollte sichergehen, dass ich es verstehe; hat mir in die Augen geschaut und gesagt, dass sie das Laka Kalaka Ende Februar schließen werde. Sie beginne bereits die Spiele zu verkaufen. Es rechnet sich leider einfach nicht: Strom und Miete sind zu teuer. Am Wochenende ist zwar alles voll, unter der Woche aber ist zu wenig los. Sie hatten unter der Woche mit mehr Umsatz gerechnet. 

Dimas Pläne für danach 

Heute, am 15. Januar 2022, bin ich morgens allein mit Dima. Ich frage ihn nach seinen Pläne, wenn das Laka Kalaka zumacht. Weiß er schon, was er dann machen wird? 

Auch er wird in dem Moment langsamer und ernster. Er sagt, dass er viele Dinge kann. Zum Beispiel Fotografieren (das Beitragsbild ist von Dima), Barista (ich habe nie wieder so einen guten Kaffee bekommen, wie den von ihm im Laka Kalaka) und anscheinend kann er auch Videobearbeitung (unten verlinke ich ein Video von Dima in ukrainischer Sprache: wie man richtig Kaffee macht). Zu diesem Zeitpunkt überlegt er auch ernsthaft, in die Armee einzutreten, Soldat zu werden. 

Ich bitte ihn darum, zumindest das nicht zu tun. Ich mag diesen Menschen; ich mag Dima. Und ich will nicht, dass irgendein Mensch, insbesondere keiner, den ich mag, Menschen töten muss. 

So, 23. Januar 2022, Myrs’kyy Hay 

Zwei Wochen später.

Die Beunruhigung, die in der vorherigen Woche mitunter spürbar war, hat sich großteils wieder gelegt. Am Vormittag frage ich Dima im Laka Kalaka, was er von dem Парк Мирський Гай (Park Myrsʹkyy Hay) hält. Er ist überrascht, denn er kennt ihn kaum. Hmm… ok, gut. Trotzdem: Ich will ihn mir auch ohne Empfehlung ansehen. 

Mit OnTaxi buche ich mir also eine Fahrt in den besagten Park. Außer Miete, Zigaretten und Alkohol, was hier viel günstiger, in München viel teurer ist, sind die Preise in Charkiw verglichen mit München meiner Erfahrung nach ähnlich. Eine weitere Ausnahme ist allerdings das Taxifahren. Das ist hier ebenso viel günstiger wie es verbreiteter ist. Für die etwa 15-minütige Fahrt zahle ich an die vier Euro … und habe noch die Möglichkeit, etwas Russisch zu sprechen. Der Fahrer hat ein paar Jahre als Krankenpfleger in der Nähe von Jena gearbeitet, spricht auch ein wenig Deutsch. Wir sprechen dann auf Russisch über seinen Job, später über das Verarbeiten von Gedanken. Ich bin stolz, dass mir das Wort für “Gedanken” einfällt, Мысли (Mysli), und freue mich, ein weiteres Mal, dass ein OnTaxi-Fahrer auf im Ansatz philosophische Gedanken freudig anspringt, sich mit mir darüber unterhält: hoffentlich behalten sie den Deutschen (trotzdem) in guter Erinnerung.

Am Ende unserer Fahrt lässt er mich zögernd in einem Industrie-Gebiet zurück: “Ist das wirklich, wo Sie hinwollen?”, fragt er. “Ja.”, versichere ich ihm. “Soll ich Sie nicht noch ein paar Meter weiter fahren?” “Nein, nein, Danke, das passt schon.” Denn hinter der Fabrik beginnt auch schon der Park. Erst gehe ich falsch, ein Wächter hält mich mit regungsloser Miene auf und um zu verstehen, dass das der falsche Weg zum Park ist, muss ich kein Russisch können. 

Dann finde ich die Straße zum Park. 

Eingang zum Park Myrsʹkyy Hay

Bis ich die ersten Bäume im Rücken habe, habe ich ein mulmiges Gefühl: Ich bin hier halt doch Ausländer, Deutscher, und auf meinen wochenendlichen Ausflügen nicht immer in den sichersten Gegenden unterwegs. All meine Besitztümer sind in meinem Rucksack: mein Laptop, der reMarkable und eine Glücksmünze. 

Zehn, fünfzehn Minuten stehe ich vor dem Fluss Лопань (Lopan), vor einer Staustufe. Hier ist es laut, es ist aber kein schlimmer, moderner Lärm. 

Ich schaue dem Eis zu, wie es sich auf die Staustufe zubewegt, manche Schollen klammern sich an andere, schieben sich unter- und übereinander, bilden so neue Strukturen; sodass sie eine Weile länger als andere aushalten bis sie die Staustufe hinuntergezogen werden, zerbrechen. Ich glaube, ich könnte es niemandem verübeln, wenn er:sie sich, sobald ein Krieg [1] beginnt, nicht um den Deutschen kümmert, sondern … erstmal für die eigene Familie und Freund:innen sorgt; man den Deutschen sich einfach auf eigene Faust durchkämpfen ließe. 

Als ich mich dann wieder von der Staustufe verabschiede, mache ich noch ein Video, schicke es einer guten Freundin, von der ich manchmal bessere Videos von ähnlichen Szenen geschickt bekomme; manchmal auch Sprachnachrichten mit nichts als dem Rauschen des Windes in ihr. Ich weiß, sie saß dann eine, vielleicht zwei Stunden auf diesem Hang und irgendwann nimmt sie das Handy raus, fängt den Wind ein und hält ihn fest.  

Zurück zum Laka Kalaka

Entlang des Лопань (Lopan) gehe ich zurück in Richtung Laka Kalaka. Ein Streuner begleitet mich ein paar hundert Meter bis zu einer Fußgängerbrücke, die kaum den Namen verdient. Über wacklige Brücken muss ich einfach gehen. Also wechsle ich die Seite des Flusses. 

Fußgängerbrücke über den Lopan.

Auf der anderen Seite muss ich die Hilfe einiger Sträucher in Anspruch nehmen, um die paar Meter vereisten Aufstieg zu einem Trampelpfad zu schaffen. Dann geht es weiter: links ein hoher Zaun, dahinter ein verlassenes Fabrikgebäude, rechts Sträucher, dahinter der Fluss. Es geht zurück zu meinem Café. Mich beschäftigt, dass es schließen wird — für immer. 

Auf Empfehlung meines Chefs, Костя (Kostya), war ich auch einige Male in Anti-Cafés (Orte, an dem man nicht für Getränke oder Essen zahlt, sondern für die verbrachte Zeit dort; in dem, in dem ich war, kostete ein Tag etwa 8€, inklusive Kaffee- und Tee-Flat — also durchaus erschwinglich). Drei oder vier Mal war ich da, aber das war einfach kein Ort für mich. Es hatte 24 Stunden täglich geöffnet. Ich kam oft schon um 8 Uhr morgens, bis zum Nachmittag war dann allerdings kaum jemand da und danach wandelte sich die Umgebung immer mehr zu einer Art Geburtstagsparty. Auf drei PlayStation 4 traten jeweils zwei Marvel-Gestalten gegeneinander an; Shishas standen zwischen Menschen, die anderen Menschen über zwei Tische hinweg zuriefen, dass sie doch mal herkommen sollten. Überall bildeten sich Grüppchen, andere Menschen lassen sich auf dem Weg von und zu der Toilette viel Zeit; drehen sich nochmal um als hätten sie dort wohlmöglich etwas vergessen. 

Das Laka Kalaka ist anders. In München habe ich so einen Ort noch nicht gefunden. 

Über das Münchner Café Lost Weekend sprechend meinte ein Freund mal zu mir, dass es ihm dort immer so vorkomme, als begriffe sich zumindest die stereotype Klientel dort nicht als die Subkultur, die sie neben Hippies, Metalfans oder Asien-Faszinierten eben ist, sondern als Austräger des wahren Geschehens, in jedem Fall als hielten diese Leute viel auf sich  —  etwas, das unser beider Sympathien nicht unbedingt weckt; man muss dem Lost Weekend allerdings lassen, dass es eins der wenigen Münchner Cafés ist, das einen auch wenig konsumierend, den ganzen Tag vor Laptop, Schreibblock oder einfach einem Buch sitzend toleriert. Und das ist schon einiges wert. Andere sind das Café Hausner, der Trachtenvogl, vielleicht das togather — aber dann wird es auch schon eng. Und keines davon hat die Atmosphäre, die ich im Laka Kalaka erlebt habe, nirgends lief bei meinem ersten Eintreten leise keltische Folk-Musik, nirgends war so eine konzentrierte Stille, unterbrochen nur von leisem Jubel, nirgends gab es einen Sitzsack und eine Bücherecke — nirgends Olja, Dima und Schenja.

Mi, 26. Januar 2022, Gaza-Streifen

Drei Tage später. 

Es ist ein normaler Wochentag. Deswegen gibt es heute auch nicht allzu viel zu berichten. Meine Mutter schreibt mir: 

Guten Morgen lieber Marco, 
gestern hat mich [unser Nachbar] abgefangen und mich gefragt, wann du aus der Ukraine zurückkommst, weil die ersten Evakuierungen stattfinden. Er war entsetzt, als ich ihm gesagt habe: am 26.2.! Nur zur Info!

Irgendwann zwischen 18 und 19 Uhr zeigt mir Ерик (Erik), ein Video aus dem Gaza-Streifen. In Charkiw ist es abends, bereits dunkel. Im Video ist es bereits nachts. Man sieht vor dem schwarzen Himmel, die orange-gelben Schweife von abgeschossenen Raketen. Er sagt, dass die Leute dort unten doch verrückt sind. Sowas kann es doch im Jahr 2022 nicht geben. 

Sa, 5. Februar 2022, eine architektonische Tour durch Charkiw

Eine gute Woche später. 

Zuhause habe ich über Neujahr ein kleines Heft gedruckt; eine Bekannte hat Illustrationen zu Texten von mir gemacht und von der Zusammenstellung gibt es jetzt 50 Exemplare. Ein Exemplar habe ich dem Laka Kalaka geschenkt. Auf die Idee kam ich auch, weil hier bereits ein signiertes Buch liegt. In ihm geht es um Architektur in Charkiw. Letztes Wochenende habe ich mit Dima darüber gesprochen: Wer hat das Buch erstellt? Es war ein weiterer Freund des Cafés gewesen. Und daraufhin bot er mir an, mir eine architektonische Tour durch Charkiw zu geben. Diesen Mittag bin ich also nicht allein unterwegs. 

Wir kommen an vielen Gebäuden vorbei, die ich bereits gesehen habe, zu denen ich aber noch nichts wusste. Viele Graffiti, viele schöne, alte, aber immer mehr verfallende Gebäude. Vor einem ehemals fürstlichen Gemäuer mit meterlangen Eiszapfen liegt eine tote Taube. Immer wundere ich mich, dass man bei der Menge an Vögeln in unseren Großstädten nicht viel häufiger auch mal einen toten irgendwo liegen sieht. Anscheinend liegt das daran, dass sie meist schon bevor sie an Altersschwäche sterben von einem Beutegreifer, wie einem Greifvogel oder einer Katze, erlegt werden; sie mit ihren meist wenigen Gramm Gewicht schnell von Aasfressern zerlegt werden und zuletzt, weil wir sie oft auch einfach nicht wahrnehmen: Wen interessiert schon so ein toter, grauer Vogel? 

Vor einigen Wochen bereits hatte mir Dima den Karpowskier Garten (Карпівський сад) empfohlen und ich war noch am selben Tag hingegangen, hatte mir einen ersten Eindruck verschafft. Der Park liegt direkt hinter der Stammstrecke Charkiws. Alle Gleise, die sich dann in die verschiedenen Richtungen aufgabeln, führen hier nebeneinander zum Bahnhof. 

Karpowskier Garten (Карпівський сад)

Bei Google hat der Park 3,9 Sterne (Stand: 06. Dezember 2022). Was bemängelt wird ist, dass er etwas verlassen ist. Die Gebäude sind verfallen und “der Wurstladen von früher” sei heute “ein Denkmal für die Kämpfer gegen kleine und mittlere Unternehmen in Form einer Gebäuderuine”. Zusammengefasst: Ich bin begeistert. Dima hatte genau meinen Geschmack getroffen.

Heute gehen wir gemeinsam durch den Park. Er erzählt von seinen Kindheitserinnerungen, zeigt mir einen Baum mit besonders schöner Musterung, erzählt davon, dass sein Vater hier in der Nähe in einer Metall verarbeitenden Fabrik gearbeitet hat und ihn immer zu Events für die Mitarbeiter:innen in diesen Park mitgenommen hatte, später hat er dann selbst in der Nähe gewohnt, ist hier regelmäßig spazieren gegangen. 

Wir gehen weiter. An einem Denkmal für ein sowjetisches Kampfflugzeug, einem Abfangjäger (МиГ-21), vorbei. Wir sprechen über Computerspiele und die russischen Truppen an der Grenze, über Kaffee, nochmal darüber, was er macht, wenn das Laka Kalaka schließt — aber es gibt keine Neuigkeiten. Dann kommen wir auf einer kleinen Erhöhung an. Hier hat man einen guten Überblick über die Stadt. An einem Haus ganz in der Nähe hat er Fotos von einer guten Freundin gemacht. Sie hat grüne Haare und ein freundliches Lächeln. Er zeigt mir ihr Instagram-Profil. Ich mag keine Instagram-Profile. Aber das Foto, das gefällt mir. 

Fr, 11. Februar 2022, den Laptop holen 

Sechs Tage später. 

Vor zwei, drei Wochen war mir mein Laptop runtergefallen. Dabei ist das Gehäuse aufgesprungen. Danach hatte er hin und wieder Probleme beim Laden. Anfangs hat man es kaum gemerkt, aber neulich hätte ich es dann fast nicht mehr geschafft das Kabel so zu positionieren, dass der Laptop noch lädt. Und wenn der Akku einmal ganz leer ist, habe ich keine Möglichkeit mehr zu erkennen, ob er nun wirklich lädt oder nicht. Ich habe die Reparatur rausgezögert, auch weil ich meine sieben Sachen beisammen haben möchte, sollte doch etwas passieren. Aber jetzt konnte ich doch nicht mehr bis zu meiner Rückkehr nach Deutschland warten. Ich habe meine Kollegen gefragt und Сергей (Sergey) hat mir dabei geholfen, eine vertrauenswürdige Reparaturstelle zu finden, ist sogar mitgekommen. 

Sergey auf einem gemeinsamen Spaziergang am 2. Oktober 2021.

Heute teilen die USA mit, dass sie bereits in den kommenden Tagen einen Angriff Russlands auf die Ukraine befürchten. Ich hole meinen Laptop von der Reparatur ab und bin erleichtert. 

Auf dem Heimweg höre ich eine Sprachnachricht von einem meiner engsten Freunde ab. Nachdem meine Mutter mich wiederholt darauf hingewiesen hat, sagt er mir auch nochmal, dass die deutsche Regierung alle Bürger:innen aufgefordert hat, mittlerweile so schnell wie möglich heim zu kommen. Ich sage ihm, dass mein Flug ja schon am 26. Februar geht … “Ist das nicht so schnell wie möglich?”, frage ich mich; ihm berichte ich weiter, dass es sich irgendwie anfühle, als ob ich meine Kollegen im Stich ließe, wenn ich jetzt einfach abhaue. … Ich weiß, dass das nicht stimmt: Was bringt es ihnen, wenn ich hier bin, wenn Russland die Ukraine überfällt? … Aber dem Gefühl, ich würde sie im Stich lassen, kann ich mich nicht erwehren.

Zusätzlich habe ich mir vor ein paar Tagen eine Powerbank in der Nikolsky Mall gekauft. 

Bild aufgenommen, am 13. Februar 2022. 

Am Abend gehe ich dann besonders früh ins Bett. Um 21 Uhr liege ich schon unter zwei Decken, mache mir nur noch meinen Plan für den morgigen Tag, wie ich es immer mache, wenn ein freier Tag auf mich wartet. Dann lese ich noch Fantasy, wie so gut wie jeden Abend. 

Zur Zeit: Codex Alera, von Jim Butcher, eine tolle Reihe. Bald schlafe ich ein. 

Fr, 11. Februar 2022, die Nacht

Zwei Stunden später. 

Gegen 12 Uhr wache ich wieder auf. Ich höre Schüsse, aber aufgeweckt hat mich etwas anderes. Das war lauter. Ein paar Sekunden frage ich mich, was das war, ob ich es mir eingebildet habe, dann folgt wieder der sehr viel lautere Knall einer größeren Waffe — das war, was mich aufgeweckt hat. 

Ich habe Angst, mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Es folgen Schüsse und eine Reihe nächster und nächster dieser Knalle.  

In den letzten Wochen hatte ich nachts immer mal wieder Schüsse gehört. Aber mit niemandem darüber gesprochen, nicht mit meinen Kollegen, nicht mit anderen Leuten aus Charkiw. Auch, weil ich mich relativ sicher in meiner Wohnung gefühlt habe. Immerhin habe ich stabile Wände um mich herum. Dann habe ich mein Fenster zugemacht (normalerweise ist es nachts gekippt) und weiter geschlafen. Dass ich hin und wieder Schüsse in der Ferne höre, schien mir … nicht allzu unwahrscheinlich. Nochmal: Die Grenze ist keine 40 km entfernt und dort stehen 100.000 Soldaten. 

Diese lauteren Schläge lösen etwas anderes in mir aus. Deutlich wird mir bewusst, dass ich im obersten Stockwerk eines Gebäudes im Zentrum der Stadt bin; dass eine Rakete oder irgendeine andere Form von Artillerie hier auch leicht die Wände oder die Decke durchschlagen kann. 

“Schießen sie gerade auf Charkiw?”, frage ich mich. “Hat es begonnen?” 

Ich versuche mich zu beruhigen. Ich mache mir bewusst, dass ich einfach Angst habe und mir das jetzt nichts bringt. … Im Alltag hilft sowas manchmal, um die Emotionen zu regulieren … hier und jetzt … hilft das nicht. 

Ich checke die News — hier steht nichts von einem Angriff. Also schließe ich das Fenster. Aber dieses Knallen ist so laut, dass ich es noch immer klar und deutlich höre. Sirenen allerdings keine, Einschläge auch keine. Ich hole meinen Block raus, schreibe irgendetwas auf, darunter auch, dass ich morgen entscheiden soll, so schnell wie möglich wieder nach Deutschland zu kommen. 

Ich liege im Bett und schaue an die Decke. Die nächsten Minuten sind geprägt von Selbstvorwürfen: “Warum bin ich so dumm und habe nicht auf meine Mutter gehört?” … Immer gefolgt von einem “Jetzt beruhig dich halt mal. Reiß dich zusammen! Menschen haben schon viel schlimmeres durchgestanden.” 

Es hilft nicht. Ich beruhige mich nicht … und bin dann enttäuscht von mir, dass ich nicht Ruhe bewahre. 

Es folgt ein einziger halbwegs ruhiger Gedanke. Er lautet: “Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät.” Dann ist alles wieder ängstlich, aufgeregt, nahe an der Panik, wie zuvor. 

Nach ein paar Minuten hören die Schüsse auch wieder auf. Es dauert noch ein wenig länger, dann komme ich wieder etwas zur Ruhe; kann sogar wieder einschlafen. Und sogar in diesem Moment denke ich daran, dass ich jetzt wieder keine acht Stunden Schlaf bekommen werde. … Lächerlich, aber so ist es. 

Sa, 12. Februar 2022, Training für den Ultra-Marathon

Am nächsten Morgen. 

Am nächsten Morgen stehe ich trotzdem, wie geplant früh auf. 

Um 07:28 Uhr schreibt mir meine Mutter: 

“Die Nachrichten über den Konflikt sind alarmierend! Was meinst Du?”

Ich antworte: 

“Ich habe davon nichts gehört. Hier sind die Leute ziemlich entspannt. Gestern erst habe ich mit einem Kollegen gesprochen.” 

Darauf schreibt sie nur “Okay” und ich rufe sie an. Sie sagt, dass sie seit Tagen nicht mehr geschlafen hat, sich große Sorgen macht. Ich habe ein flaues Gefühl im Magen, sage ihr aber, was mein Chef, Kostya, zu mir meinte, dass das seit Jahren immer das Gleiche ist: immer heißt es, dass die Russen angreifen. Aber es passiert nichts. Ich unterfüttere das nochmal mit der Meinung des Podcasts Lage der Nation zu diesem Zeitpunkt: Es scheint mir Russland viel mehr zu bringen, die Truppen einfach dort (an der Grenze) stationiert zu lassen, sodass die Ukraine auf keinen Fall der Nato beitreten kann. Wenn sie dort einfach permanente Unterkünfte für Soldat:innen errichten, erreichen sie doch eigentlich alles was sie wollen: Man wird auf der internationalen Bühne ernst genommen und der Nato-Beitritt der Ukraine wird verhindert. … Außerdem ist es viel günstiger, als einen Krieg anzufangen. Und ein paar Minuten nach unserem Telefonat mache ich ihr dann nochmal eine Sprachnachricht: 

“Mach dir wirklich keine Sorgen, Mama. Irgendwie komme ich immer heim.”


“Gestern Nacht war ich mir da selbst nicht so sicher.”, erinnere ich mich. Natürlich habe ich niemandem bisher etwas von gestern Nacht erzählt. Wie so oft, muss ich die Dinge erstmal selbst verarbeiten. 

Um 10:30 Uhr bin ich dann mit Демиан (Demian) zum Laufen verabredet. Ich kenne ihn aus dem Gym. Er trainiert für einen Ultra-Marathon im Juli. 100 Kilometer auf Asphalt, im Kreis. Deswegen trainiert er auch auf Asphalt. 

Nach einem Run im Schnee. 

Das heißt heute auch für mich: Entlang einer Hauptstraße auf dem Fahrradweg laufen. Naja, ok. Einmal kann ich das schon machen. 

Nach gestern Abend beschäftigt mich der Konflikt noch mehr und ich frage ihn nach seiner Meinung; sage sogar, dass ich ernsthaft in Erwägung ziehe, früher heimzufliegen. Auch hilft mir, zu sagen, wie große Sorgen sich meine Mutter macht. Seine Meinung ist, dass die Amerikaner einfach wollen, dass der Dollar-Kurs wieder hoch geht und immer, wenn es solche Spannungen gibt, passiert das … und deswegen macht er sich da gar keine Sorgen.

Ich erzähle es meiner Mutter, füge hinzu, dass Demian auch auf einer Militäruniversität war, Military Coach ist und sich daher schon auch irgendwie auskennt.

Dann komme ich in meine Wohnung. Während des Mittagessens öffne ich die Nachricht, die mir die Tochter meiner Vermieterin geschickt hat: es ist nur ein Bild, ein Screenshot, ohne irgendeine Form von Kommentar. Auf ihm steht in großen roten Lettern “ACHTUNG!” (ВНИМАНИЕ! (Wnimanie)). Die Nachricht ist nicht auf Russisch sondern auf Ukrainisch. Ich verstehe nichts. Aber mir vergeht der Appetit. Ich frage sie, was es bedeutet. Sie antwortet relativ schnell: “Nichts, vermutlich ist es nicht wichtig.” … Ok. Aber ich schreibe jetzt eine Nachricht an Kostya: Ob ich ihn ganz kurz anrufen darf? Nach ein paar Stunden antwortet er. Ich rufe sofort an. Er versteht, dass ich früher abreisen will, versteht insbesondere, wenn ich das machen will, damit es meiner Mutter wieder besser geht.

Dann rufe ich meine Freundin, Yoana, an, frage auch sie nochmal nach ihrer Meinung. Natürlich ohne ihr von gestern Nacht zu erzählen. Ich weiß auch so schon, dass sie sich ähnlich große Sorgen wie meiner Mutter macht und demnach, was ihre Meinung zu all dem sein wird. Dann suchen wir gemeinsam einen Flug nach München. So bald wie möglich. Und: Es gibt keinen mehr … zumindest von Charkiw nach München. Weder heute, noch morgen, noch übermorgen. Bleibt nur noch Kiew-München. Und so einen Flug gibt es: übermorgen Nachmittag für über 500 €. Wir buchen ihn, sowie einen Nachtzug für morgen: Charkiw-Kiew. 

Es fällt mir schwer zu beschreiben, wie dankbar ich ihr in diesem Moment und danach bin. Ich weiß, dass einen Flug zu buchen für sie etwas beinahe Alltägliches ist. Besonders kompliziert ist das ja auch wirklich nicht. Aber ich bin dabei immer nervös … und in dem Fall nochmal mehr, nochmal sehr viel mehr. Vermutlich hätte ich es auch selbst auf die Reihe bekommen. Aber sicher bin ich mir da echt nicht. 

Danach rufe ich meine Mutter an, sage ihr, dass ich einen Flug für übermorgen gebucht habe und sie beginnt schon am Telefon fast zu weinen. Als nächstes sage ich meinem Kollegen, Ваня (Vanja), Bescheid, weil er meine Papier für die Ausreise fertig machen wollte … eigentlich hätte das alles am Montag geschehen sollen. Es ist Samstag, aber mit meinen Kollegen hier verschwimmt Privates und Geschäftliches immer mal und Vanja antwortet mir wie selbstverständlich auch am Samstag. In weniger als einer Stunde macht er alles fertig, sagt mir, was ich noch ausdrucken und unterschreiben muss, weiter, dass ich dafür sorgen muss, dass es am Montag im Büro ist. Als nächstes schreibe ich meiner Vermieterin. Und auch sie zeigt Verständnis. Sie war jeden Monat da und weiß, dass in der Wohnung alles passt. Ich soll den Schlüssel einfach einer Nachbarin geben. 

Dann gehe ich ins Laka Kalaka, umarme alle, verabschiede mich von allen … und Schenja hat eine Träne im Auge. Auch mir fällt es sehr schwer. Was ein Ort, was für Menschen. 

Ich drucke die Dokumente aus, unterschreibe sie, danach gehe ich bei Stanislav und Anastasija vorbei. Anastasija ist da. Ich sage ihr, dass ich ein paar Tage früher abreisen werde als geplant und erkläre warum. Weiter frage ich, ob ich die Dokumente hier lassen kann, ein Kollege wird sie am Montag abholen. Auch hier ist man bedrückt, dass ich gehe. Aber dass ich die Dokumente hier lasse, ist natürlich kein Problem. Zuletzt geht sie noch mit mir auf die Straße, umarmt mich lange und wir verabschieden uns. Auch hier wird mein Herz schwer. 

Was bleibt ist der Abend. Ich fühle mich erleichtert, habe aber auch ein schlechtes Gewissen und ein mulmiges Gefühl in Bezug auf die Nacht. Vielleicht ist es ja doch zu spät. Ich mache meinen Plan für morgen, lese meine Fantasyreihe und schließe vorsichtshalber schon mal das Fenster. 

So, 13. Februar 2022, im Grenzgebiet

Der nächste Tag. 

In der Nacht ist es ruhig geblieben und ich bin früh aufgestanden, habe mir einen Kaffee gekauft und dann eine längere OnTaxi-Fahrt vor mir. Ich verlasse die eigentliche Stadt — in Richtung Russland. Es gibt noch etwas, das ich sehen will, bevor ich Charkiw verlasse. 

Der Fahrer ist Mitte Vierzig, war über fünfzehn Jahre lang Soldat. Es ist eines der seltenen Gespräche mit jemandem aus Charkiw, das mich eher beunruhigt als beruhigt. Er ist sich nicht so sicher wie die anderen, dass Russland nicht angreift. 

Mein Ziel für den heutigen Tag ist der Фельдман-Екопарк (Feldman-Ekopark), irgendetwas zwischen einem Wildpark und einem Zoo. Aber der macht erst um 10 Uhr auf. Gegen 8 Uhr lasse ich mich daher an einer kleinen Siedlung in der Nähe absetzen. Die meisten Häuser hier erinnern eher an Datschas, kleine Wochenendhäuser, eines fällt mir auf, weil es fast wie eine kleine, moderne Festung aussieht. Ich spaziere zwischen den Häusern in Richtung einer dahinter-liegenden unbesiedelten Fläche, dort muss es auch einen See geben, der direkt am Feldman-Park liegt. Am See angekommen rufe ich meine Mutter an. Sie fragt, ob ich sehr enttäuscht bin. Darauf sage ich ihr nochmal, dass ich nicht glaube, dass irgendetwas geschehen wird, nochmal, was der Politik-Podcast Lage der Nation dazu meint und dass mir das nach wie vor plausibel scheint; dass ich aber nicht sehr enttäuscht bin, nur ein bisschen ein schlechtes Gewissen gegenüber meinen Kollegen habe. Auf jeden Fall freue ich mich aber auch wieder auf zuhause. Und die paar Tage mehr oder weniger machen jetzt ja auch echt keinen so großen Unterschied. 

Irgendwann treffe ich diesen behaarten Genossen und merke, dass ich im Ekopark bin: 

Dort sehe ich Wölfe, sibirische Tiger, Rothunde, Papageien, Adler und vieles mehr. Bald stellt sich das gewohnte Gefühl ein, wenn man Tiere hinter Gittern sieht. “Uff seid ihr … und … ….” 

Danach fahre ich heim, mache alles fertig, dann geht es an den Bahnhof. Ich bin natürlich viel zu früh und setze mich hinter die Statue einer Figur aus einem alten Sowjetfilm. Sie zeigt einen Priester, Vater Fjodor. Hinter ihr warte ich auf meinen Zug. 

Wartend auf Züge für Fernreisen bin ich immer etwas angespannt. Ob er nun wohl wirklich kommt?, ob es wohl eine Gleisänderung in letzter Minute geben wird, die ich dann nicht mitbekomme?, kommt vielleicht doch eine Minute davor ein anderer Zug, in den ich dann steige?, und es ist ja auch überhaupt nicht gesagt, dass der richtige Zug auch in die richtige Richtung fährt. Immer wieder scheint es mir ein großes Glück, dass dann doch meist alles funktioniert. Die Anspannung ist aber eben auch heute da. Allerdings kaum mehr als sonst. Spätestens wenn mir aber dann ein Mensch versichert, dass das der richtige Zug ist, in den ich im Begriff bin einzusteigen, entspanne ich mich. Ich mein’ … , auch wenn wir nicht ankommen, habe ich ja alles richtig gemacht. … Naja. 

Am Charkiwer Bahnhof wird das Ticket beim Einsteigen kontrolliert. Alles läuft glatt und so sitze ich bald im Zug nach Kiew. Erste Klasse, weil es ein Nachtzug ist, ich ein schlechter Einschläfer bin und man sich in der ersten Klasse das Abteil zu zweit und nicht zu viert teilt. 

Kurz nach mir kommt meine Begleitung. Ein Mädchen, Nana, mit kurzen Haaren und einem Strickpullover — etwa in meinem Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger. Sie ist auch … auf Abreise; wird nach Georgien fliegen, wo sie ursprünglich her ist. Wir sprechen kurz auf Russisch, wechseln später aber, weil wir uns gut verstehen, auf Englisch. Und als ich das akzeptiere, realisiere ich, dass ich jetzt erstmal kein Russisch mehr brauchen werde. … Es ist vorbei. Ich übe nicht mehr, um mich besser zurechtzufinden. Jetzt fängt wieder der Regress an. Aber die Realisation wird davon aufgeheitert, dass ich sehr erleichtert bin, mit wem ich mir da ein Abteil teilen werden. Nana anscheinend auch. Wir quatschen eine Weile. Bald erzählt sie mir, dass irgendwas mit ihren Tickets nicht stimmt. Der Flug wird nirgends angezeigt. Wir rätseln, finden aber keine Erklärung. 

Mo, 14. Februar 2022, der Heimflug

Am nächsten Morgen. 

Nana und ich fahren in einer komplett überfüllten S-Bahn zum Flughafen. In meinem Blickfeld steht ein finster dreinblickender Ukrainer mit grauen Haaren. Als ein penetrantes Mädchen von den Armen ihrer Mutter auf deren Kopf klettern will, hellt sich sein Gesicht auf. Er beginnt zu lächeln. 

Am Flughafen ist dann alles normal. Busy halt. Es ist aber auch ein Flughafen. Der einzige Unterschied zu sonst ist, dass beständig Kameras auf die Anzeigetafeln gerichtet sind. Sie warten darauf, dass die Flüge ausfallen. Schon am Eingang trennen sich unsere Wege. Ihr Flug wird pünktlich abheben und sicher in Georgien ankommen. 

Ich bin zwar viel zu früh am Flughafen, aber besser so als anders. Außerdem hat mir die Freundin, der ich das Video von der Staustufe am Lopan geschickt habe, zur Ablenkung zwei in Summe etwa 30-minütige Sprachnachrichten aufgenommen. In der ersten erzählt sie von sich, von ihrer Schulzeit, was sie wem danach beweisen wollte und vom Schachspielen mit einem Jungen, den sie gut fand; in der zweiten erfindet sie eine Geschichte. Sie handelt von zwei Händen, die eine komplizierte Beziehung zueinander haben. Ob sie zur selben Person gehören wird bis zum Schluss nicht klar, das tut aber auch nichts zur Sache. 

Zur Sache tut wohl aber noch, dass sie aus Litauen ist, dass ihr Vater im Januar 1991 am Fernsehturm in Vilnius war, als dort sowjetische Panzer einrollten; Frauen und Männer eine Menschenkette um den Turm bildeten und einige von ihnen starben, überrollt wurden. 

Heute fliehe ich aus der Ukraine, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die russische Armee etwa 30 Jahre später die Ukraine überfällt. Es fühlt sich für mich nicht echt an. “Das kann doch nicht sein, wir haben 2022.”, denke ich mir, denke an Erik. … 

Bald geht mein Flug. Dann bin ich wieder in Deutschland.


Dezember, 2022, Ende

Am 24. Februar, 2022, überfällt Russland die Ukraine. 

Stand 27. September, 2022, sind seitdem 7 Millionen Menschen innerhalb der Ukraine in andere Städte und 7,5 Millionen aus der Ukraine geflohen; 500.000 aus Russland. Nach westlichen Einschätzung sind außerdem bis zum 9. November 2022 mehr als 100.000 ukrainische Soldaten und Soldatinnen verletzt worden oder sind gefallen; auf russischer Seite sollen es deutlich mehr als 100.000 sein. Und zuletzt sind, Stand 18. Dezember, 10.769 Zivilisten bestätigt verletzt, 6.826 Zivilisten bestätigt tot. (Quelle: Wikipedia)


Marco

Anmerkungen vom Dezember, 2022

[1] Ich weiß, dass der Krieg im Februar 2014 angefangen hat. Aber ich habe mich bemüht, in dem Beitrag die Gedanken von damals aufzuschreiben und so habe ich damals nicht gedacht. Ein Fehler.

Zu einigen der Genannten aus der Ukraine 

Dima aus dem Laka Kalaka war die ganze Zeit und ist noch in Charkiw. Unter anderem hat er dort das oben genannte YouTube-Video zum Kaffeemachen gemacht: 

Dimas Video zum Kaffeemachen.

Schenja aus dem Laka Kalaka ist nach Polen geflohen, weil die Kultur dort näher an der ihren ist als sie es in Deutschland gewesen wäre. Gerade ist sie allerdings wieder für ein paar Wochen in Charkiw. 

Anastasija von myFruit ist ebenso nach Polen geflohen.

All meine Kollegen aus Charkiw sind in anderen ukrainischen Städten; nur Erik ist, soweit ich weiß, noch in Charkiw. 

Und zuletzt ist der zuvor für einen Ultra-Marathon trainierende Demian seit Kriegsbeginn Soldat.