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Wie soll ich handeln?

Ich glaube, es gibt eine kaum überbrückbare Kluft zwischen Menschen, die meinen, sie sollten sich in ihren Handlungen am Ist-Zustand ausrichten – ich überzeuge sie, indem ich ihnen klarmache, dass so und so zu handeln auf Basis der Welt, wie wir sie antreffen, die beste Option ist … ja und dann meistens noch für sie die beste Option ist – und Menschen, die meinen, sie sollten ihre Handlungen an einem idealen Soll ausrichten: Wie soll ich handeln?

Während jene das „ich“ in „Wie soll ich handeln?“ empirisch verstehen – ein Exemplar: der Mensch eingesperrt in die ihm gegebene Zeitspanne –, verstehen diese das Ich als wahrhaftes, als freies, als schaffendes Subjekt – und so liegt diesen dann oft der Kategorische Imperativ auch viel näher. (Das ist allerdings nur eine vielleicht zufällige Beobachtung.)

Jene setzen also voraus, dass es richtig ist, ihr persönliches Soll am historischen Ist auszurichten, diese, das Soll habe sich am Ideal auszurichten – fassen so die Frage anders auf.

Im Vergleich, denke ich, dass jene näher an Endlichkeit, Notwendigkeit und Zeitlichkeit, diese näher an Unendlichkeit, Freiheit und Ewigkeit sind. Und die Begründung, warum ich diesen den Vorzug vor jenen gebe, setzt das voraus. Sie ist simpel: Endlichkeit, Notwendigkeit und Zeitlichkeit drücken ohnehin auf unsere Existenz, ob wir es wollen oder nicht. Sie lachen uns täglich ins Gesicht, manchmal ohrfeigen sie uns – und Schlimmeres.

Es verwundert daher auch nicht, dass diese, welche näher an Unendlichkeit, Freiheit und Ewigkeit sind (ich nenne sie die Synthetiker:innen), dass nun also diese Jahr um Jahr weniger werden und dass sie es häufig leichter hatten als jene, die der Endlichkeit, Notwendigkeit und Zeitlichkeit nicht mehr zu entfliehen suchen (auch das: vielleicht nur eine rein zufällige Beobachtung). Auch wenn die Synthetiker:innen selbst unter denen, die es leichter hatten, noch in der Minderzahl sind. Unter denen, die es schwerer hatten, findet man sogar noch seltener ein Individuum, das sich am göttlichen Dreiklang orientiert. Vermutlich gerade, weil dort das teuflische Dreigespann so hart, vielleicht auch so früh zuschlug. Und doch: die wenigen Synthetikern:innen, die aus widrigen Umständen kommen, machen dem Gespann ihren frei gezogenen Strich durch die Rechnung.

Zuletzt: Dem Menschen ist wesentlich Synthese aus den drei Gegensätzen zu sein: Endlichkeit & Unendlichkeit, Notwendigkeit & Freiheit, Zeitlichkeit & Ewigkeit. So steht es bei Kierkegaard (vgl. 2019b: 31). So ist es. So ist er, der Mensch, als Individuum, als Geschöpf (in Abgrenzung zum Exemplar), gesetzt. Und so setze auch ich es voraus.

Also komme ich zum Schluss, dass es unsere Aufgabe ist, die Unendlichkeit, Freiheit und Ewigkeit gegen alle Widrigkeiten in die Welt zu bringen. Das ist die Aufgabe. Anders bestimmt: das bedeutet es, sich zu öffnen, sich zerreißen zu lassen.


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Literaturverzeichnis